Stoische Lebenskunst: Zuflucht im Inneren

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Angenommen es gäbe eine Apotheke mit den Philosophien dieser Welt. Und angenommen ein Arzt müsste darin eine Therapie finden, um die quälenden Symptome des digitalen Zeitalters zu lindern: Überhitzung und Zerstreuung, Überreizung und Erschöpfung. Der Griff zu Marc Aurel wäre goldrichtig. Die Schriften des antiken römischen Kaisers böten ein Allheilmittel gegen den oberflächlichen Hedonismus unserer grotesken „Erfolgskultur“. Einer verirrten und abwegigen Kultur, deren ökologisch ruinöse Folgen immer deutlicher zutage treten, da sie Mensch und Umwelt systematisch auslaugt. Einer chronisch betäubten Kultur, die letztlich von einer nagenden Seins- und Todesvergessenheit angetrieben scheint. Mit Marc Aurel könnte sie den Horizont weiten auf die Dinge, die wirklich wichtig sind. Der selbstkritische Kaiser, der selbst der privilegierten Elite seiner Zeit angehörte, fand sie weder im Ruhm noch im Reichtum, weder in der Macht noch in der Genusssucht. Die Frage, wie man leben soll, führte ihn zurück zu den Schätzen, die er in seinem Inneren fand. Marc Aurel verstand Philosophie als konkrete Handlungsanleitung für ein erfülltes Leben, wie Nikolaus Halmer heuer, 1900 Jahre nach der Geburt des „philosophierenden Herrschers“, in der FURCHE schrieb.

Dass sich die Weisheit der Stoiker heute wieder zunehmender Beliebtheit erfreut, ist gut nachvollziehbar. Selbst unter widrigen Umständen gelassen zu bleiben, klingt für stressgeplagte Zeitgenossen attraktiv und erstrebenswert. Kaum beachtet aber sind bislang die Verbindungslinien, die von Marc Aurels Gedankenwelt in die moderne Psychologie führen. Sein Werk findet erstaunlichen Widerhall bei namhaften Vertretern dieser Wissenschaft – etwa bei Abraham Maslow (dem Begründer der „Bedürfnispyramide“) oder bei Jon Kabat-Zinn (dem Pionier der Achtsamkeitsbewegung). All die großen Themen, die bei Marc Aurel verhandelt werden, sind hier in zeitgemäßer Form durchgespielt: Selbstverwirklichung, Geistesgegenwart, Gelassenheit, Akzeptanz und Einfachheit.

Drängende Probleme wie die Klimakrise erscheinen heute oft als unaufhaltsame Manifestation globaler Kräfte, jenseits des individuellen Einflussbereichs. Die stoische Perspektive, sich selbst zu genügen und im Inneren einen Zufluchtsort zu bewahren, erscheint dann umso tröstlicher. Psychosoziale Forschung und Praxis könnten weiter von der stoischen Lebenskunst profitieren – unabhängig davon, wie chaotisch die äußere Welt noch wird.

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