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Lehrer und Ärgernis

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Rudolf Bultmann ist im Alter von 92 Jahren gestorben. Er hat als Professor für neutestamentliche Wissenschaft in Marburg — zusammen mit Karl Barth und Paul Tillich — das Gesicht des Protestantismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt. Schüler von ihm wirkten in Japan, in den USA, gelegentlich in den Oststaaten. Wer immer im Sinne einer an der Uni-

versität zu verantwortenden Theologie arbeitete, konnte nicht an Bultmann vorbei Theologie betreiben. Auch im Räume des römischen Katholizismus wurden seine neu-testamentlichen Kommentare sachgemäß benützt; der Durchbruch zum Katholizismus ist signalisiert mit dem Buch von Gotthold Hasenhüttl: Der Glaubensvollzug — eine Begegnung mit Rudolf Bultmann aus katholischem Glaubensverständnis (1963).

Bultmann war und blieb vielen ein Ärgernis: den Kirchenleitungen, konservativen Theologen, frommen Gemeindemitgliedern. Ein gegen ihn nach dem Zweiten Weltkrieg laufendes Lehrzuchtverfahren wurde auf Anraten von Karl Barth — damals seinem großen theologischen Antipoden — abgebrochen. Das Ärgernis Bultmann ist das Ärgernis seines

Entmythologisierungsprogramms. Bultmann gehört zu jener protestantischen Tradition, die die Spannung zwischen Wissen und Glauben, zwischen Bibel und zeitgenössischem Denken nicht in einer Synthese aufzuheben vermag, wie das etwa der Thomismus tut. Bultmann vertritt hier die Haltung protestantischer Redlichkeit, die — methodisch gesehen — die historisch-kritische Methode als das dem Bibelverständnds allein sachgemäße Werkzeug betrachtet. Nur diese Methode vermag, so lautet die Argumentation, die echten Fragen des Glaubens zu thematisieren und die intellektuelle Zumutung durch falsche Fragestellun-

gen des Glaubens abzuweisen. Kritik rettet also die christliche Botschaft für unsere Zeit und für unser Denken, das ist das Selbstverständnis der Bultmannschule.

Die für die Theologie gegebene kopernikanische Wende ist formuliert in Bultmanns Schrift von 1941: Neues Testament und Mythologie — Das Problem der Entmythologisie-rung der neutestamentlichen Verkündigung. Für Bultmann ist der Mythos Göttergeschichte, die verbunden ist mit dem Weltbild, das im Himmel, Erde und Hölle rechnet. Die drei Stockwerke vermögen aufeinander einzuwirken. Das alles aber ist nach Bultmann magisch, unge-scbichtlich, vorwissenschaftlich und inhaltlich angewiesen auf das Urzeit-Endzeit-Schema.

Das mythische Weltbild ist auch das Weltbild des Neuen Testaments. Darum lautet jetzt Bultmanns entscheidender Satz: „Das alles ist mythologische Rede, und sofern es nur mythologische Rede ist, ist sie für den Menschen von heute unglaubhaft, weil für ihn das mythische Weltbild vergangen ist.“ Diese Analyse führt Bultmann aber nicht zur Auflösung der neutestamentlichen Botschaft, sondern zu ihrer Interpretation. Das Mythologische muß auf seine Absicht hin befragt werden! Im Mythos spricht der Mensch, so wie er sich in seiner Welt versteht. Interpretation wird damit zur Existenzanalyse, für die sich Bultmann bei Heidegger die sachgemäße Zurüstung holt. Ein Beispiel für Bultmanns Interpretation: Die Osterberichte der Evangelien haben mythologische, weltbildhafte, ja miraku-löse Aspekte; ihre Absicht ist aber, dem Menschen zu sagen: es gibt das Angebot einer Freiheit von den Mächten des Bösen und des Todes — gegen alle Sinnwidrigkeit der Existenz gibt es die eschatologische Bestimmtheit des Menschen.

Bultmanns Mythosdefinition ist kritisch befragt worden: ist der Mythos wirklich zeitbedingt und vorwissenschaftlich oder gehört er doch zur Wirklichkeit heutiger Existenz? Etwa als Sprache des Unbewußten? Aber man wird Bultmann nicht leicht entkommen: wer immer den Mythos deutet, hat die gott-menschliche Unmittelbarkeit der mythischen Welt verlassen, eine Welt, die offenbar auch noch die des Neuen Testaments war. Bultmanns Fragen bleiben also bestehen.

Bultmann ist gestorben — der Protestantismus hat mit ihm den großen Lehrer verloren, der unerbittlich zuf intellektuellen Redlichkeit führte. Auch dieses Problem bleibt bestellen. “

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