Fronleichnam: Marx und der Grabstein-Millionär

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Brigitte Quint über das Fronleichnam ihrer Kindheit und warum man es sich bis heute mit der Moa Christa nicht verscherzen sollte.

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Brigitte Quint über das Fronleichnam ihrer Kindheit und warum man es sich bis heute mit der Moa Christa nicht verscherzen sollte.

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Zu Fronleichnam bekam ich als Kind eine Vorahnung davon, was es heißt in einer Klassengesellschaft zu leben. In unserem Dorf gab es drei Klassen. Zur herrschenden Klasse zählte die Familie des Fußballvereinsvorsitzenden. Und die des Dorfwirts. Auch der Müller und die seinen. Und der Bankdirektor samt Anhang.

Über allen stand der Grabstein-Millionär. Ein Unternehmer, der mit der Produktion von Grabsteinen reich geworden war. Er hatte vier Kinder und eine blonde Frau. Ich sehe sie vor mir, wie sie sonntags mit erhobenem Kinn und auffällig aufrechter Haltung dem Gottesdienst beiwohnt. Die zweite Klasse wiederum waren die Bauern. Meine Familie etwa. Wir hatten nur den Nachteil, dass unser Hof außerhalb des Dorfes lag. Die Bauern im Dorf hatten mehr zu sagen.

Angehörige der dritten Klasse waren wiederum jene, die in den Mietswohnungen lebten. Ja, überhaupt Zugezogene. Und Preußen natürlich. Jedenfalls fand zu Fronleichnam die große Auslese statt. Die Mesnerin, die Moa Christa, stellte die Statue des Jesukindleins im Vorraum der Kirche auf. Wir Kinder halfen ihr dann mit dem Blumenschmuck. Für die Prozession. Vier Kinder durften es am Fronleichnamstag durchs Dorf tragen. Ein Träger-Posten ging fix an einen Sprössling aus der Grabstein-Dynastie. Außerdem musste ein Kind aus dem Umkreis des Fußballvereinsvorsitzenden berücksichtigt werden. Die verbliebenen Trägerjobs vergab die Moa Christa nach Gutdünken. Verscherzen wollte es sich deshalb niemand mit ihr.

Später auf der Uni habe ich gelernt, dass der Begriff Klassengesellschaft überholt ist. Marx ist de facto widerlegt. Die Moa Christa schaltet und waltet trotzdem weiter. Und hat die Qual der Wahl. Allein der Grabstein-Millionär soll drei Enkel haben...

Lesen Sie auch die Quint-Essenz "Mückstein in Turnschuhen" oder "Was ist richtig, was falsch?".

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