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Über Dichter und Dichtungen

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„Poetica“, acht Essays zum Thema poetischen Gelingens sowohl, als auch des schöpferischen Impulses, verleugnen weder ihren Verfasser, noch seinen geistigen Standort: Hans-Georg Gadamer (1900 geboren) hat Germanistik, klassische Philologie, Kunstgeschichte und Philosophie studiert, habilitierte sich 1929 bei Martin Heidegger und wurde 1949 Nachfolger von Karl Jaspers auf dem Lehrstuhl in Heidelberg. Wer die Gedichtinterpretationen Heideggers kennt, wird nicht verkennen, daß Gadamer, in völlig eigener Diktion, die übernommene Substanz weiterbearbeitet Zu den alten Kronzeugen dichterischen Geschehens, George und Hölderlin, nimmt er passend neue hinzu und beweist, daß der beobachtete Schaffensprozeß ungebrochen seinen Fortgang genommen hat: Rilke, Paul Celan, Hüde Domin.

Die Arbeiten stammen aus dem Jahrzehnt 1966 bis 1975 und beginnen mit der Gedenkrede „Der Dichter Stefan George“. Mit ihren Gedankengängen überschneidet sich notwendigerweise die Studie „Hölderlin und George“. Der Schwerpunkt der Betrachtung ist aber verlegt: Lag er im Einleitungsessay auf George, der von Hölderlin unterschieden wurde, so ist es jetzt umgekehrt. „Ich und du die selbe Seele“ stellt eine typische (und subtüe) George-Interpretation vor, wie sie einst der George-Verehrung entsprach und - offenbar - noch immer entspricht. Sehr schön - und soziologisch unkritisch - der Vortrag „Rainer Maria Rilke nach fünfzig Jah-

ren“, gehalten anläßlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstages.

War das Thema bisher dem Rückblick auf Beispiele aus großen Zeiten deutscher Lyrik gewidmet, so kommt nun die Gegenwart zur Sprache, zunächst mit der grundsätzlichen Frage „Verstummen die Dichter?“ Das Nein wird durch ein Ja zu zwei Namen formuliert, Paul Celan und Johannes Bo-browski, beziehungsweise umformuliert: „Nicht, daß die Dichter verstummen, sondern ob unser Ohr noch fein genug ist zu hören, ist die Frage.“ Das gewagte Unternehmen, es dem durch Werbetrommeln abgestumpften Gehör nicht leicht zu machen, wird gezeigt an „Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan“, mit dem feinen Schlußsatz: „Celan hat sein Äußerstes gegeben. So verlangt er ein Äußerstes und oft mehr, als wir aufbringen“ Den Abschluß bilden die Deutungen „Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr“ und „Hilde Domin, Lied zur Ermutigung II“. Dabei wird geistreich und ergreifend die Heimkehr aus dem Exil mit der Rückkehr aus dem Exil der Sprachlosigkeit konfrontiert, denn: „So ist die Rückkehr und Einkehr zur Sprache, die der Dichter vollbringt, nicht nur seine eigene Rückkehr, in der er sich wiederfindet, weil er alles verlor, es ist unser aller Rückkehr zu uns selbst, in der wir uns finden.“ Und dieses schöne Buch will zum Suchen verhelfen.

POETICA. Von Hans-Georg Gadamer. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1977. 151 Seiten, öS 154,-.

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