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Und begrüße ich herzlich

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Es gibt in der menschlichen Gesellschaft Sitten und Gebräuche. Und es gibt Unsitten und Gebräuche. Die Unsitten entwik-keln sich oft dann, wenn man eine Sitte übertreibt. Nach Konrad Lorenz gibt es nur ein menschliches Laster: die Übertreibung.

Wir sind in einem Festsaal, in einer festlichen Versammlung, unter festlich gekleideten Menschen, sehen festlichen Blumenschmuck, hören festliche Musik. Daß es ein bedeutsames Fest ist, sieht man an der Anzahl von Prominenz und Ehrengästen, die sich eingefunden haben.

Wer das etwa noch nicht bemerkt haben sollte, der erfährt es vom ersten Festredner, der hinter das blumengeschmückte Pult tritt. Denn er muß die Gäste begrüßen, und die kann er um Himmelswillen nicht alle in einen Topf werfen, über einen Kamm scheren, sozusagen. Er räuspert sich und begrüßt mit großer Herzlichkeit die hohen Vertreter der Geistlichkeit. Hierauf erheben sich die Begrüßten von ihren Plätzen und nehmen den Beifall des vollen und festlichen Hauses entgegen.

„Sehr herzlich“, fährt der Festredner fort, und nun sind die Magnifizenzen und Spectabilitäten an der Reihe, denn das Fest wird in einer Universitätsstadt gefeiert.

So manchem im Publikum wird ,4m Busen bang beklommen“, denn wenn der Mann am Rednerpult schon am Anfang seinen ganzen Vorrat an Herzlichkeit aufteilt, wo soll er dann die Reserven hernehmen? Und er muß sich vielleicht noch steigern — schließlich harren ja noch die Politiker, die Herren Landeshauptleute, Landtagsabgeordneten, Bürgermeister und all deren Stellvertreter der Begrüßung.

Immerhin hat der Mann am Pult kurze Pausen der Besinnung, denn jeder der so überaus herzlich und besonders herzlich Begrüßten steht auf, nimmt den Beifall entgegen, nickt leutselig lächelnd und verbeugt sich oder beides, je nachdem, wie lange der Beifall dauert. Gegen Ende einer nicht endenwollenden Reihe von Persönlichkeiten, die begrüßt wurden, findet meist die Presse Erwähnung, die selten aufsteht, auch selten Applaus erhält. Wenn es dann nach einer knappen Viertelstunde endlich heißt, „Meine sehr verehrten Damen und Herren“, weiß man, daß die Begrüßungsorgie nun beendet ist und der Festredner endlich zum Thema kommen kann.

Diese „sehr verehrten Damen und Herren“ sind die einzigen, die nie mit irgendeiner besonderen oder besonders herzlichen oder ganz besonders herzlichen Freude begrüßt werden. Sie erwarten das auch nicht. Da ich nicht zur Prominenz, sondern zum „gewöhnlichen Bagagi“ gehöre, gerate ich immer wieder in Verlegenheit, ob wir nun, getreu den prominenten Vorbildern, auch alle aufstehen und uns einander gegenseitig applaudieren sollen oder nicht. Ich halte es dann mit der Mehrheit und bleibe sitzen.

Wenn man Pech hat — und oft hat man Pech —, fühlen die nachfolgenden Festredner sich bemüht, das Zeremoniell ihres Vorredners zu wiederholen. Mit der einzigen Variation, daß dann keiner mehr aufsteht, weshalb die Damen und Herren auch nicht mehr zu applaudieren brauchen. Aber nach all dem, was man schon erlebt und erlitten hat — und bei allen künftigen Festen noch erleiden wird —, ist das nur ein schwacher Trost. Und zur Stärkung dieses schwachen Trosts gibt es nur eins: eine ausgezeichnete Festrede.

Und die kommt mitunter sogar vor.

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