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Vergilbte Visitkarte

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Einer der Mächtigsten unseres Landes leistete sich unlängst bei einer Pressekonferenz die vielsagende Pun-zierung der kommenden Nationalratswahl als „Störfaktor”.

Bei allem Verständnis für die konkrete Situation, in der diese Äußerung fiel, und auch bei voller Anerkennung der Sorge um die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung, in welche die Nationalratswahl gewissermaßen „hineinplatzt” und damit—so war es wohl gemeint — das ökonomische Krisenmanagement behindert: über einen derartigen Versprecher kann man nicht bedenkenlos hinwegsehen.

Denn dieser Lapsus linguae ist ja nur die Außenseite einer vielfach in unserer politischen „Obertanen”-Kultur beheimateten Auffassung, derzufolge Wahlen bestenfalls die Chance seien, die Politik der Mächtigen kritiklos automatenhaft zu akklamie-ren. Und sogar diese Chance wird heute bereits als störend empfunden? Weit haben wir es gebracht!

Der Wähler als Störfaktor — eine solche Auffassung erklärt nebenbei, warum auch die von allen politischen Parteien fallweise aus dem Reformzylinderhut gezogenen Konzepte, die eine Verbesserung bzw. Repolitisierung des Verhältnisses zwischen Wähler und Gewähltem versprechen, wie Seifenblasen platzen:

Man will zwar irgendwie guten Wind für die eigene Politik machen, ernstlich soll sich aber am bisherigen Zustand nichts ändern. Bislang ist man in der Frage einer grundsätzlichen Wahlrechtsreform mit dieser Taktik ganz gut gefahren. Überdies hat eine Fülle anderer Probleme hervorragende Ablenkungsdienste geleistet.

Gerade deshalb wird man immer wieder (und auch in Zeiten wie diesen) alle Politiker mit der Gretchenfrage der Demokratie konfrontieren müssen: „Wie hältst Du's mit einem bürgernahen Wahlrecht?”

Geschieht dies nicht, so-sind wir „Unteren” am Einbetonieren unseres einflußlosen Status selbst schuld. Und die „Oberen” (vor allem in der sozialistischen Reichshälfte) sollten sich nicht nur bald eines Besseren, sondern auch eines Karl Renners entsinnen, dem nämlich Wahlen und Wahlrecht noch die Visitkarte der Demokratie waren.

Unser heutiges Wahlsystem gleicht bestenfalls noch einer vergilbten Visitkarte. Und eine solche tauscht man bald aus.

Der Autor ist Politikwissenschafter an der Universität Wien.

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