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Taferlpolitik

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„Als Böhmen noch bei Österreich war..beherrschte eine oft unschöne Taferlpolitik das öffentliche Leben. Die Völker der Monarchie stritten sich dauernd darum, ob die Aufschriften in diesem oder jenem Ort zwei- oder einsprachig sein sollten, und wenn schon zweisprachig, welche Sprache zuerst verwendet werden sollte. Mit dem Verschwinden der alten Monarchie ist auch diese Art Taferlpolitik verflogen. Eine neue hat sich dagegen breitgemacht, die durchaus positiv zu bewerten und zu begrüßen ist: An vielen historisch interessanten Gebäuden werden in Österreich Erinnerungstafeln aus Marmor angebracht. In jenen Fällen, in denen die Anbringung einer solchen Tafel nicht möglich ist, denn die schlichteste Tafel kostet 7000 Schilling, und elf Instanzen müssen ihre Bewilligung dazu geben, haben die österreichischen Städte, wie zum Beispiel Wien, durch Anbringung von einfachen Schildern es zuwege gebracht, daß eine Stadt mit ihren Gebäuden sich den Fremden vorstellt. Jeder Interessierte kann sich jetzt mühelos informieren. Aber dennoch gibt es auch in diesem System nicht unbeträchtliche Lücken.

In Wien befindet sich zum Beispiel keine Tafel:

• am weltberühmten Loos-Haus am Michaelerplatz;

• am Wohnhaus Adolf Loos’ in der Bösendorferstraße Nr. 3;

• am Sterbehaus Tegetthoffs in der Schenkenstraße;

• am Geburtshaus Jan Massaryks, das zugleich das Wohnhaus seines Vaters Thomas Garrigue war;

• am Wohnhaus Pilsudskis, dem Begründer des neuen Polen.

Die Liste könnte noch weiter fortgesetzt werden, und die „Furche“ bittet auf diesem Wege ihre Leser, die Öffentlichkeit auf solche fehlende Tafeln hinzuweisen.

An einem Haus in Wien, und zwar in der Schönbrunnerstraße im zwölften Bezirk, ist es nicht notwendig, eine Marmortafel oder auch nur ein schlichtes Schild anzubringen, um auf die historische Bedeutung dieses Hauses hinzuweisen. Denn eine Tafel befindet sich bereits an diesem Haus, die daran erinnert, daß in diesem Gebäude vor dem ersten Weltkrieg niemand anderer als Josef Stalin gewohnt hat. Diese Tafel wird hoffentlich immer bestehen bleiben, einerseits als ein Zeichen österreichischer Toleranz und anderseits auch als ein historisches Kuriosum, denn dieses Haus ist der einzige Ort der Welt, der nicht entstalinisiert wurde.

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