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Lise Meitner: Frau und Atom

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Der Wiener Gemeinderat würdigt Dr. Lise Meitner.

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Der Wiener Gemeinderat würdigt Dr. Lise Meitner.

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Die Frau, die der Wiener Gemeinderat zu ihrem 80. Geburtstag zum Bürger ihrer Heimatstadt ernannt hat, hat mit Marie Curie bewiesen, wie fragwürdig die Ansicht von der mangelnden Fähigkeit der Frau zu konstruktivem und systematischem Denken ist. Sie studierte an der Wiener Universität Physik bei niemandem Geringeren als dem großen Boltzmann, just zu der Zeit, da Otto Weininger mit seinem Werk „Geschlecht und Charakter“ den großen Streich gegen die geistige Ebenbürtigkeit der Frau führte. Die Tochter eines angesehenen jüdischen Anwalts, Schwester der später sehr bekannten Pianistin Gusti Meitner, bemächtigt sich mit Leichtigkeit der Wissensdinge, aber selbst sie war außerstande, das Vorurteil gegen studierende Frauen zu überwinden. Das in den Herbst 1907 fallende wissenschaftliche Debüt in Berlin (die Wiener Doktorarbeit von 1906 behandelte Probleme der Wärmeleitung) war nicht gerade erhebend. Professor Fischer, der Leiter des Chemischen Instituts, verbannte Dr. Meitner als „Frauensperson“ in eine im Keller eingerichtete Holzwerkstatt, wo aber trotz räumlicher Bedrängnis eine der fruchtbarsten wissenschaftlichen Partnerschaften beginnen und dreißig Jahre dauern sollte. Der Name des jungen Assistenten war: Dr. Otto Hahn.

1917 baute Dr. Meitner die Abteilung für physikalische Radioaktivität am Kaiser-Wilhelm-Institut auf und entdeckte einen neuen Grundstoff, das Protaktinium. 1922 erhielt sie als eine der ersten Frauen an einer preußischen Universität die Venia Legendi, vier Jahre darauf war sie a. o. Professor für Physik. Die Zusammenarbeit mit Dr. Hahn überdauerte die Machtergreifung durch den Nationalsozialismus. Lise Meitner verlor 1933 die Professur, blieb aber als Oesterreicherin und durch Hahns Eintreten bis zum Anschluß im Institut unbehelligt. In einer Julinacht

1938 überschritt sie die holländische Grenze, fand zunächst bei Niels Bohr, dem Schöpfer des Atommodells, eine Zuflucht, in Stockholm eine neue Heimat und eine neue Stellung: Leiterin der kernphysikalischen Abteilung der Kgl. Technischen Hochschule.

Kaum hatte Lise Meitner Deutschland verlassen, als Hahn und sein neuer Assistent Fritz Straßmann die folgenschwerste Entdeckung der Neuzeit machten: sie spalteten das Uran-Atom. Am 11. Februar 1939 wurde die gelehrte Welt durch Lise Mehner und ihren bereits 1933 emigrierten Neffen Otto Robert Frisch, gleichfalls Physiker, in der Londoner Zeitschrift „Nature“ darüber in Kenntnis und nicht geringe Aufregung versetzt. War es Dr. Hahns Verdienst, die erste Atomspaltung erzielt zu haben, so haben wir Professor Meitner die energetische Durchrechnung zu danken, die nachwies, daß mit einer derartigen Spaltung eine Energieentwicklung von mindestens 200 Millionen Elektronenvolt verbunden ist. Kaum vier Jahre später lief in Chikago durch Enrico Fermi der erste Kernreaktor an, sechs Jahre darauf fielen die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki...

Daß aus Dr. Hahns Entdeckung — und nicht zuletzt als Fazit ihrer eigenen Ideen — auch die Atombombe gemacht wurde, hat über Lise Meimers Lebenswerk einen tragischen Schatten gelegt. Während ihrer Dozententätigkeit in Amerika, die in die Zeit des Zweiten Weltkrieges fiel, hat sie sich strikte geweigert, an der Entwicklung nuklearer Waffen mitzuarbeiten. 1949 nach Deutschland auf Besuch zurückgekehrt, erhielt sie gemeinsam mit Dr. Hahn aus der Hand Professor Heuss' die goldene Planck-Medaille, die zur Erinnerung an den Schöpfer der Quantentheorie an die Würdigsten vergeben wird.

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