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Sozialdenken hat gegriffen

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Ich bin der Ansicht, daß in Österreich der Beitrag christlichen Sozialdenkens - hier konvergieren Katholische Soziallehre und Evangelische Sozialethik durchaus - für die politische Kultur Österreichs größer ist als für die institutioneile Ausstattung, die nach wie vor überwiegend wertvolles Erbstück des politischen Liberalismus ist.

Die Zweite Republik ruht mit auf den großen Opfern gerade der sozial und politisch engagierten Christen während der Zeit des Nationalsozialismus. Die Katholische Soziallehre blieb aber auch nach 1945 gegenwärtig und wirksam, getragen von verschiedenen Einrichtungen: dem Karl-Kummer-In- stitut in Wien, Graz und Vorarlberg, der Katholischen Sozialakademie Öster

reichs, Zeitschriften wie die FURCHE und „Präsent“, den beiden Auflagen (1964 und 1980) des Katholischen Soziallexikons und in der praktischen Politik ÖAAB und FCG, die alle in realistischer Sicht - „verantwortungsethisch“ würde Max Weber sagen -nicht nur praktische Sozialprobleme refor- merisch angingen, sondern auch die politische Kultur der Zweiten Republik mitgestalten.

In fünf „Feldern“ hat christliches Sozialdenken durchaus „gegriffen“:

1. Christentum als ethisches Umfeld des Staates, in dem soziale und politische Tugenden wie Liebe, Brüderlichkeit, Partnerschaft, Solidarität und Opferbereitschaft - vor allem in der christlichen Familie und in anderen christlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen - vermittelt und eingeübt werden. Hier geht es nicht nur um die individualistische Selbstverwirklichung, sondern auch um Leben für andere.

Dieser christliche Beitrag richtet sich gegen Hedonismus, gegen individual- und sozialethischen Utilitarismus, gegen theoretischen wie praktischen Materialismus, unterläuft aber auch tech- nokratisch-funktionalistische Steuerungsideologien.

Der Staat braucht, ja verbraucht - wie gerade Korruptionsfälle der letzten Jahre zeigen - sehr viel Moral, die er selbst nicht produzieren kann.

2. Der Fundamentalkonsens: Christliches Sozialdenken ist ein Konstituens der Zweiten Republik, stützt die grundsätzliche Wertübereinstimmung der Bürger in Toleranz und Kompromißbereitschaft, relativiert das Mehrheitsprinzip, tendiert zu Einstimmigkeit.

Das hier als Positivum vermerkte Konkordanzpotential der christlichen Denk- und Gefühlsstrukturen ist freilich notwendig ve/bunden mit geringer Konfliktbereitschaft und -fahigkeit.

Dreimal wurde die christliche Betonung des Gemeinsamen in der Geschichte der Zweiten Republik besonders augenfällig, nämlich

• bei der Stabilisierung der endlich gefundenen österreichischen Identität;

• beim materiellen wie immateriellen Wiederaufbau und dem Zusammenwirken der großen politischen Kräfte in der Großen Koalition;

• beim Durchhalten dieses Fundamentalkonsenses in der wohl stärksten Verwundung christlichen Weltbezugs in der jüngsten Vergangenheit: in der Auseinandersetzung um die „Fristenlösung“ (1972/1977), die Christen gingen nicht von der Friedfertigkeit zur gewalttätigen Fundamentalopposition über, die Aktion Leben arbeitete viel-

mehr mit dem Instrumentarium (Volksbegehren) des demokratischen Rechtsstaats.

3. Die Sozialpartnerschaft: Von Karl Korinek bis Norbert Leser herrscht Einhelligkeit, daß in der österreichischen Sozialpartnerschaft das christliche Ordnungsprinzip der Solidarität, des Zusammenwirkens von Kapital und Arbeit - und nicht altsozialistisches Klassenkampfdenken - in konkordanten Entscheidungsmustern seinen Ausdruck fand.

, Auf diesem sozialpartnerschaftlichen Nährboden konnten dann christliche Vorstellungen Eingang in Sozialpolitik und Sozialrecht finden: Familienlastenausgleich, Wohnungseigentum, Jugendeinstellung, Pensionsdynamik, innerbetriebliche Mitbestimmung, überhaupt Partizipation der Betroffenen im engeren Lebensbereich.

4. Der Föderalismus: Zu den ältesten Emanationen des Subsidiaritätsprinzips in Österreich zählt der Föderalismus und die bundesstaatliche Einrichtung der Republik Österreich.

5. Die „Dienste“: Vom Bereich der politischen Kultur in den der Normen, Institutionen und Aufgabenerfüllung weisen die mit dem Heilsdienst der Kirchen verknüpften Weltdienste: gegen Widerstände und in Niederlagen wurden Lebensschutz (Aktion Leben) und Minderheitenschutz (Bemühen um das Zusammenleben der Volksgruppen in Kärnten) zumindest im öffentlichen Bewußtsein gegenwärtig gehalten, Caritas und andere „klassische“ Sozialdienste, „neue“ Dienste für Menschenrechte, Freiheit, Frieden, Sicherheit und Entwicklung in der Welt, Eintreten für „unpolitische“, artikulations- und organisationsschwache Personen und Gruppen (Familien, Frauen, Kinder, Alte, Kranke, Flüchtlinge und Gastar-

beiter), die soziale Gerechtigkeit, Wärme und Geborgenheit besonders brauchen.

Die schwierigen achtziger Jahre werden für die Christen Österreichs genug geistige, politische und wirtschaftliche Aufgaben bereithalten. Zwei grundlegende Chancen liegen darin:

• Angesichts einer wachsenden Skepsis gegen die Errungenschaften der letzten 200 Jahre, den wisschenschaftlich-tech- nischen Fortschritt, einer Skepsis, die in einen verzweifelten Bilder- und Maschinensturm Umschlägen könnte, besteht für Christen die Chance, den Ausgleich von biblischer „Tiefe“ und jahrhundertealter Tradition mit den Ideen und Strukturen der Aufklärung, den Ausgleich von familienhafter Einfach-, heit des Lebens mit notwendiger Arbeitsteilung, wissenschaftlicher Welterfassung und technischer Entwicklung herzustellen.

1 Die schweren Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben können nur Menschen vollbringen, die in Krisenzeiten etwas „aushalten“, die über reine Wohlstandserwartungen hinaus ein immaterielles Ethos entwickeln, die eine motivationsstarke Freiwilligkeit im Dienste ihrer Mitmenschen und ihres Landes aufbringen. Ich hoffe sehr, daß unser Land in seinen Christen noch solche „Reserven“ besitzt.

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Autor am 16. Juni anläßlich der Verleihung des Karl.v.-Vogelsang-Preises 1980 in Wien hielt.

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