Der Kalte Krieg am Schachbrett

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Im Sommer 1972 erlitt die Sowjetunion eine herbe Niederlage. Bobby Fischer widerlegte am Schachbrett den real existierenden Sozialismus - und wurde als Weltmeister paranoid.

Für Moskau war klar, dass der dialektische Materialismus auch auf dem Schachbrett unbesiegbar macht. Seit 1938 stellte die UdSSR den Weltmeister, doch nun wackelte diese Hegemonie: Großmeister Mark Taimanow, einer der vier Russen unter den acht WM-Anwärtern, wurde 1971 von Bobby Fischer 6:0 besiegt. Keine einzige Partie endete unentschieden, ein nahezu unmögliches Ergebnis auf diesem Spielniveau. Die Sowjetunion reagierte - wie immer staatlich verordnet - mit einer Trainingsgruppe aus Großmeistern, die Boris Spasski im Kampf um den Weltmeister-Titel unterstützen sollte.

Ein Schlüsselkind und seine Schachfiguren

Die Ironie, auf die Frank Bradys Biografie "Endspiel“ hinweist: Auch der 1943 geborene Herausforderer hatte sich mit russischer Schachliteratur gebildet. Seine Mutter, die in Moskau Medizin studiert hatte, förderte diese Neugier Bobbys, der sonst kaum für schulische Leistungen zu gewinnen war. Ihre eigene Ausbildung reichte kaum, Bobby und seine Schwester Joan durchzubringen. Europäische Abschlüsse zählten nicht, der Vater lebte von der Familie getrennt. Während der Arbeit wollte die Mutter das Schlüsselkind Bobby mit einem Schachspiel unterhalten, doch seine fast manische Beschäftigung damit wuchs ihr über den Kopf.

Mäzene verschafften Fischer Zugang zu New Yorks Chess Clubs, wo 1956 klar war, dass Amerika ein Genie am Brett besaß. "Er spielte gegen Donald Byrne, einen Top-Spieler der USA, und Bobby führte seine Züge so brillant aus, dass es einem fast den Atem verschlug“, erinnert sich Brady heute an diesen Auftritt des 13-Jährigen im Marshall Chess Club. Die kommenden Jahre brachten viele Siege und einige Niederlagen, vom Schach leben konnte Fischer, der die Schule abgebrochen hatte, aber noch nicht. Das sollte sich in Reykjavík ändern. Auf 150.000 Dollar hatte er die Gage hochverhandelt, eine Summe, die der Weltverband FIDE nur dank eines Sponsors aufbringen konnte. Nicht nur aufgrund dieser Forderung stand der Kampf an der Kippe. Selbst Außenminister Henry Kissinger schaltete sich ein ("Hier ruft der schlechteste Schachspieler der Welt den besten an“) und bat Fischer, es den Russen doch zu zeigen.

Die Paranoia der Sowjet-Funktionäre

Beckett und Kafka wurden bemüht, um die Winkelzüge der Kontrahenten zu beschreiben, die einander in Reykjavík gegenüberstanden. Die Sowjet-Funktionäre unternahmen alles, um eine Niederlage zu verhindern. Auf der Jagd nach "chemischen Substanzen und elektronischen Einrichtungen“, die ihren Champion negativ beeinflussen, ließen sie Spasskis Sessel zerlegen und alle Glühbirnen wechseln. Fischer wiederum blieb der Auslosung fern, eine Respektlosigkeit, die die UdSSR-Delegation fast abreisen ließ. Auch weigerte sich der 29-Jährige vor einer TV-Kamera zu spielen.

Doch es stand nicht gut für den Weltkommunismus nach 20 Partien; Fischer lag mit 11,5 zu 8,5 Punkten vorne. Als Spasski am 1. September 1972 nicht zur Fortsetzung der am Vortag abgebrochenen Partie erschien, ging auch der entscheidende Punkt an Bobby Fischer. Der Junge aus Brooklyn war Weltmeister.

Vom Antikommunisten zum US-Hasser

Drei Jahre lange währte der Ruhm des Amerikaners, der dem Spiel noch nie da gewesene Popularität verlieh. Dann pokerte Fischer erneut mit dem Weltverband, zehn gewonnene Partien statt wie bisher 12 Punkte sollte der Weltmeister vorweisen können. Das Horten von halben Punkten durch unentschiedene Partien sollte damit beendet sein. 1,5 Millionen Dollar hätte der Verlierer erhalten, doch Anatoli Karpow holte den Titel kampflos - Bobby Fischer legte ihn zurück, da die FIDE nicht nach seinen Regeln spielen wollte.

Am Rande der Obdachlosigkeit verbrachte er die nächsten 20 Jahre, "seine Zurückgezogenheit war das Ergebnis seines Willens, sich selbst zu erziehen“, so Frank Brady zur FURCHE. "Jetzt verschlang er Bücher geradezu, leider waren einige davon antisemitisch und er begann diese Weltsicht anzunehmen.“ 1992 erschien die Legende wieder im Scheinwerferlicht: In Montenegro spielte er erneut gegen Spasski, auf Einladung eines Finanzjongleurs und unter Missachtung des US-Embargos. Seine Heimat hasste Fischer mittlerweile, er zog nach Ungarn, später nach Japan, eine Spur enttäuschter Freunde hinterlassend. Als er 2001 im philippinischen Radio noch Al Kaida zum Attentat auf das World Trade Center gratulierte, zog sich die Schlinge zu. Nach Monaten der Haft in Japan gewährte Island ihm Asyl. Die Buchhandlung Bókin wurde zur zweiten Heimat des Schachweltmeisters in Reykjavík, im Jänner 2008 starb Fischer. Er wurde 64, so viele Jahre, wie ein Schachbrett Felder hat.

Genie als Spieler-Gewerkschafter

Der Kalte Krieg mag 2012 ebenso vergessen sein wie die Partien in Reykjavík. Schachspieler schulden Fischer aber einiges, ist Brady überzeugt. "Er war so etwas wie ein Gewerkschaftsführer, als er höhere Geldpreise, bessere Beleuchtung und ein idealeres Umfeld der Wettkämpfe forderte. Ein weiteres Ergebnis des gesteigerten Interesses nach 1972 war die Tatsache, dass heute etliche Profis vom Spiel leben können. Vor Fischer konnten das in den USA vielleicht zwei Personen.“

Bobby Fischer fand aber auch nach seinem Tod keine Ruhe. Vor zwei Jahren wurde seine Leiche auf Drängen einer philippinischen Freundin exhumiert. Die DNA-Untersuchung ergab, was Kennern ohnehin klar war: Der Weltmeister von Reykjavík hat keinen Erben.

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