20 Mann auf einen Streich

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Harald E. Balló über das "Schachwunderkind" Samuel Reschewsky.

Die Leute betrachteten mich, befühlten mich, versuchten mich zu liebkosen, stellten Fragen. Professoren maßen meinen Schädel und psychoanalysierten mich. Reporter kamen zum Interview und schrieben phantasievolle Geschichten über meine Zukunft. Ständig hatten die Photographen ihre Kameras auf mich gerichtet." Es war kein wirklich kindgemäßes Leben, das der junge Samuel Reschewsky führte. "Aber ich kann nicht sagen", gestand er später, "dass ich es nicht schön fand."

1911 in einem Vorort von Lodz in Polen als jüngstes von sechs Kindern geboren, durchschaute der Knabe das königliche Spiel beängstigend rasch: "Ich griff es auf beim Zusehen, wie mein Vater zu Hause spielte", gab er später zu Protokoll. Mit vier Jahren spielte er gut genug, um die meisten Könner seines Ortes zu schlagen. Mit sechs Jahren hatte er sich bereits in Lodz und Warschau mit zahlreichen Polnischen Meistern, unter ihnen auch Großmeister Akiba Rubinstein, am Schachbrett gemessen. Bald verbreitete sich sein Ruf durch halsbrecherische Simultanvorstellungen in ganz Polen. 1920, im Alter von acht Jahren, begann freilich erst Reschewskys ernsthafte Karriere als "Schachwunderknabe": Begleitet von seinen Eltern gab er Vorstellungen in Berlin, Wien, Paris oder London. Am 3. November 1920, unmittelbar nach seiner Ankunft in New York, wurde er zum Marshall-Schachklub gebracht, wo er den damaligen Champion der Vereinigten Staaten, Großmeister Frank J. Marshall und A. B. Hodges, einen früheren Champion, traf.

Ausbeuterische Eltern

Von der anschließenden Tournee durch ganz Amerika und den Preisgeldern profitierten vor allem die Eltern des Wunderkindes. Ende 1922 wurden sie deshalb wegen "improper guardianship" angeklagt. Schon die Psychologin Franziska Baumgarten hatte sie auf die Gefahren dieses Lebenswandels für den Jungen hingewiesen. Bereits 1920 hatte sie verschiedene Intelligenz-und Gedächtnis-Tests mit ihm durchgeführt - wobei der kleine Sammy nur mäßige bis durchschnittliche Leistungen erbrachte, sich aber gleichwohl nach vier Minuten 40 Zahlen samt ihrer Position in einem 5x8-Quadrat merken konnte. Baumgarten schlug vor, selbst für den Jungen zu sorgen. Doch mit den Dollar-Summen, die das Wunderkind auf einer Schachtournee erspielen würde, konnte sie nicht konkurrieren. Die Anklage gegen die Eltern wurde gleichwohl fallen gelassen; nur ein Erzieher wurde beauftragt, "übermäßige Ausbeutung" zu verhindern.

Der Reiz des jungen Meister-Stratege war in jedem Fall groß. Auch für Charlie Chaplin, der in seiner Autobiografie verewigte, wie er Reschewsky bei einer Simultanpartie gegen zwanzig Erwachsene beobachtet hatte: "Man musste nicht unbedingt Schachspieler sein, um das Drama dieses Abends wahrzunehmen: Zwanzig Männer mittleren Alters über ihrem Schachbrett brüten zu sehen, in Ratlosigkeit gestürzt von einem Siebenjährigen, der noch dazu jünger aussah, als er war, und ihn zu beobachten, wie er an dem U-förmig angeordneten Tisch von einem Brett zum anderen ging, war allein schon dramatisch genug. Die dreihundert oder mehr Zuschauer, die schweigend an den Längswänden der Halle saßen und ein Kind beobachteten, das seine Geisteskraft mit der erfahrender Männer maß, wirkten surrealistisch. Der Junge war verblüffend, doch beunruhigte er mich, denn als ich das konzentrierte kleine Gesicht betrachtete, einmal stark gerötet und dann wieder kreidebleich, wusste ich, dass der Junge mit seiner Gesundheit bezahlte ..."

Biederer Beruf

Chaplin irrte - der Knabe hatte Glück: Bald kam er in Kontakt mit dem Chicagoer Philanthropen und Schachspieler Julius Rosenwald, der die Reschweskys überredete, sich in der Nähe von Detroit niederzulassen und den Knaben zur Schule zu schicken. Dank dieser Intervention besuchte Sammy die High School und graduierte an der Universität von Chicago - zum Buchhalter. Seine Schach-Leidenschaft hielt freilich an: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Reschewsky Berufsspieler und gewann vor seinem Tod 1992 sieben Mal die us-Meisterschaft. Zur Weltmeisterschaft hat es aber nicht gereicht. Dieses Bravourstück - und das Brechen der sowjetischen Hegemonie - sollte erst 1972 einem anderen Wunderkind gelingen: Bobby Fischer, seinerzeit mit 15 Jahren jüngster Schach-Großmeister aller Zeiten.

Der Autor ist Schachhistoriker und Internist in Offenbach am Main.

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