Eine Widerständige, die sich nicht fügt

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In der von Männern dominierten Literaturszene des viktorianischen Englands publizierte Charlotte Brontë, deren Geburtstag sich am 21. April zum 200. Mal jährt, zunächst unter Pseudonym. Nicht nur ihre kritische Stimme macht ihre Romane bis heute lesenswert.

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In der von Männern dominierten Literaturszene des viktorianischen Englands publizierte Charlotte Brontë, deren Geburtstag sich am 21. April zum 200. Mal jährt, zunächst unter Pseudonym. Nicht nur ihre kritische Stimme macht ihre Romane bis heute lesenswert.

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Als 1847 der Debütroman eines gewissen Currer Bell erschien und umgehend zum Verkaufserfolg avancierte, wurde arg spekuliert, wer dieser der Londoner Literaturszene völlig unbekannte Autor wohl sein möge. Die Besprechungen zeigten sich durchwegs angetan. Das Interesse wurde genährt, als im selben Jahr kurz nacheinander zwei weitere Romane unter dem geheimnisvollen Nachnamen veröffentlicht wurden, für die ein Ellis und ein Acton Bell verantwortlich zeichneten. Die Romane trugen die Titel "Jane Eyre", "Wuthering Heights" und "Agnes Grey". Verfasst wurden sie von den wohl berühmtesten Schwestern der Weltliteratur: Charlotte, Emily und Anne Brontë.

Was wir über das Leben der Familie Brontë wissen, stammt größtenteils aus Elizabeth Gaskells umfangreicher Biografie "The Life of Charlotte Brontë" - eine verlässliche Quelle insofern, als Mrs. Gaskell, wie sie heute noch in Großbritannien kurz genannt wird, nicht nur selbst Schriftstellerin und Zeitgenossin, sondern auch eine enge Freundin Charlottes war. Es war Patrick Brontë, der die Biografie seiner verstorbenen Tochter in Auftrag gegeben hatte. Die Zeitgenossenschaft und Nähe zur Familie birgt allerdings den Nachteil, dass so manch sensibles Thema nur in abgeschwächter Form oder gar nicht Eingang gefunden hat in Gaskells Lebensbeschreibung. Brontës Liebe zu einem verheirateten Mann während ihrer Zeit als Gouvernante wird dezent verschwiegen, dafür scheint Gaskells Charlotte Brontë die viktorianische Tugend in Person gewesen zu sein -und aus heutiger Sicht daher ziemlich langweilig. Dieses Bild wurde von anderen Biografen längst revidiert. Bemerkenswert ist, dass es sich um eine der ersten Biografien einer Schriftstellerin überhaupt handelt, die noch 20 Jahre vor "A Memoir of Jane Austen", geschrieben von Austens Neffen, erschien.

Armut und Ausbeutung als Thema

Ein glückliches Leben war es nicht. Jung zu sterben war nichts Außergewöhnliches zu dieser Zeit, schon gar nicht im kargen, von Sümpfen durchzogenen Yorkshire, das so gar nichts von der lieblichen Landschaft Südenglands besitzt. Haworth, wo Reverend Patrick Brontë mit seiner Familie das Pfarrhaus bezogen hatte, war besonders schlimm dran. Durch den Friedhof kontaminiertes Grundwasser füllte ebendiesen mit einer Geschwindigkeit, die die Sterblichkeitsrate der ärmsten Viertel Londons noch weit übertraf.

Die Mutter, Maria Branwell, die aus einer reichen cornischen Familie stammte und ihrem Mann aus dem milden Penzance am äußersten Zipfel Cornwalls in den Norden folgte, gebar sechs Kinder, aber sah keines davon aufwachsen. Dafür musste Patrick Brontë nicht nur den Tod seiner Frau, sondern auch seiner fünf Töchter und seines Sohnes miterleben. Die Bildung seiner Töchter lag dem Reverend für die damalige Zeit erstaunlich am Herzen. Er unterrichtete sie selbst und schickte sie auf ein Internat für Pfarrerstöchter. Lowood, die Schule für Waisenkinder, in der Jane Eyre unter brutalen Erziehungsmethoden und unzumutbaren Zuständen zu leiden hat, ist das wenig rühmliche literarische Abbild von Cowan Bridge. Verwunderlich ist es nicht: Charlottes Schwestern Maria und Elizabeth sterben kurz hintereinander, was Vater Brontë dazu bringt, Charlotte und Emily wieder nach Hause zu holen.

Paradebeispiele für die viktorianische Literatur sollen die Romane der Brontë-Schwestern sein und in der Tat kann man sie so lesen. Geschrieben in der Umbruchszeit der Industriellen Revolution zeigen sie sich gesellschaftskritisch, thematisieren Armut und Ausbeutung aus weiblicher Perspektive. Doch wären diese Texte nur erbaulich-pädagogische Coming-of-Age-Narrative, wären sie schwerlich in die Weltliteratur eingegangen.

Was es heißt eine Frau zu sein

Der Plot von Charlotte Brontës großem Roman "Jane Eyre" ist typisch für das Genre des Gouvernantenromans: Junges Waisenmädchen wird von der grausamen Pflegefamilie in ein Internat für Arme abgeschoben. Sie friert, hungert und wird gedemütigt. Die halbe Schule wird von Typhus hinweggerafft. Doch Jane lässt sich nicht unterkriegen, wird Lehrerin und schließlich Gouvernante auf Thornfield Hall, wo sie sich in den düsteren Hausherrn Mr. Rochester verliebt. Der macht Jane einen Heiratsantrag, doch leider stellt sich heraus, dass er noch verheiratet ist. Die tugendhafte Jane widersteht der Versuchung, flieht bei Nacht und Nebel, vergeht fast auf der Heide und wird wundersam gerettet. Nach einigen Verwicklungen kommt es schließlich zum Happy End: Jane kann ihren nunmehr verwitweten Rochester ehelichen und auch für männliche Nachkommenschaft wird umgehend gesorgt. Das klingt ein wenig trivial und höchstens noch literaturhistorisch interessant. Wäre da nicht die so gar nicht angepasste Ich-Erzählerin Jane Eyre. Und wäre da nicht die Wahnsinnige, eingesperrt im Dachboden. Jane Eyre, die den Leser direkt adressiert, ist kritisch und freigeistig, sie gibt sich nicht zufrieden mit dem, was ein Frauenleben im 19. Jahrhundert zu bieten hatte: "Es heißt, Frauen seien im Allgemeinen still und friedlich, aber Frauen empfinden genauso wie Männer, sie wollen genauso wie ihre Brüder ihre Talente anwenden und sich bewähren; sie leiden unter allzu strenger Einengung, unter völligem Stillstand genauso, wie die Männer leiden würden, und es ist engstirnig, wenn ihre bevorrechteten Mitmenschen fordern, sie sollten sich damit begnügen, Pudding zu kochen und Strümpfe zu stricken, Klavier zu spielen und Taschen zu besticken. Es ist gedankenlos, sie zu verurteilen oder auszulachen, wenn sie mehr tun oder lernen wollen, als Sitten und Gebräuche für ihr Geschlecht vorsehen."

Und direkt im Anschluss an dieses Plädoyer heißt es: "Wenn ich so allein war, hörte ich nicht selten das Lachen von Grace Poole, das gleiche gellende Gelächter, das gleiche leise, langsame 'Haha', das mich beim ersten Mal so erschreckt hatte." Doch es ist nicht die Dienstbotin Grace Poole, die hier lacht, wie Jane alle weismachen wollen. Es ist Rochesters kreolische Ehefrau Bertha Mason, die er, geisteskrank geworden, im Dachgeschoss gefangen hält. Bertha, die im Roman nur als Schemen auftaucht und keine Stimme hat, ist furchteinflößend und mitleiderregend zugleich. Wir hören ihr gellendes Lachen, wenn Jane sich Freiheit wünscht. Sie zerreißt Janes Hochzeitsschleier und setzt das Haus in Brand, ein Störfaktor.

Zwei neue Brontë-Ausgaben

Das ist es, was die Romane Charlotte Brontës bis heute lesenswert macht: Die widerständige Stimme, die sich nicht den hierarchischen Verhältnissen fügt, ihre Aufsässigkeit und die Ebene des Protests, die die Autorin in ihre Texte legt, auch wenn sie ihre lauteste Stimme noch in den Dachboden verbannen muss. Man hört sie trotzdem. Brontë selbst sah auch noch ihre drei jüngeren Geschwister an Schwindsucht sterben, ein unerträglicher Schmerz, wie wir ihren Briefen entnehmen.

Sie schrieb noch weiter Romane, von denen vor allem "Villette" (1853), ebenfalls ein Gouvernantenroman, sehr lesenswert ist. Wenige Monate nach ihrer Heirat mit dem Hilfspfarrer ihres Vaters starb sie, noch keine vierzig, wahrscheinlich an Komplikationen in der Schwangerschaft. Zum 200. Geburtstag gibt es zwei schöne neue Ausgaben von "Jane Eyre". Der im Insel Verlag erschienenen Neuübersetzung von Melanie Walz ist dankenswerterweise erstmals das Vorwort der Autorin selbst vorangestellt. Bei Manesse wurde die etwas modernere Übersetzung von Andrea Ott neu aufgelegt. Beide Ausgaben zollen der Bedeutung und Komplexität des Textes durch ein Nachwort und kommentierende Anmerkungen Tribut.

Jane Eyre

Roman von Charlotte Brontë Übersetzung von Melanie Walz Insel 2015 652 S., geb., € 30,80

Jane Eyre

Roman von Charlotte Brontë, Übersetzung von Andrea Ott, Manesse 2016 608 S., geb., € 27,80

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