6705343-1963_49_15.jpg
Digital In Arbeit

Zwiespältiges Dasein

19451960198020002020

DIE GENIALE WELT DES BRANWELL BRONTE. Von Daphne Du Maurier. Fretz- i-Wasmuth-Verlag, Zürich-Stuttgart. 245 Seiten, Preis 17.50sFr.

19451960198020002020

DIE GENIALE WELT DES BRANWELL BRONTE. Von Daphne Du Maurier. Fretz- i-Wasmuth-Verlag, Zürich-Stuttgart. 245 Seiten, Preis 17.50sFr.

Werbung
Werbung
Werbung

Die drei Schwestern Bronte: Charlotte, Emily und Anne, die in dem düsteren Pfarrhaus von Haworth, in der Einsamkeit des Yorkshire-Moorlandes, im vergangenen Jahrhundert ihre später so berühmten Romane „Jane Eyre“, „Sturmhöhe“ und „Die Pächterin von Wildfell Hall“ schrieben, sind weit über ihre englische Heimat hinaus bekannt geworden. Wer seinerzeit die ausgezeichnete Lebensgeschichte Charlottes, „Genie im Schatten“ von Clara Schulte (W.-Jess-Verlag, Dresden 1936), gelesen hat, bekam ein gutes Bild von der krankhaft introvertierten Atmosphäre, die im Elternhaus der Brontes herrschte, von dem Leben schon der Kinder in einer Traumwelt, die ihre echte Begegnung mit der Wirklichkeit verstellte.

In dieser abseitigen, verstiegenen Welt wuchs Branwell Bronte auf, der einzige Knabe unter fünf Mädchen, von denen zwei schon als halbe Kinder starben. Ein begabtes Kind, ein vielversprechender Jüngling, der aber schon früh auf Abwege geriet, dem Trunk und Rauschgiften verfiel und schließlich ganz verkam. Sowohl in Mrs. Gaskells zeitgenössischer wie auch in späteren Biographien der Schwestern spielt dieser Branwell eine traurige und peinliche Rolle, während Daphne Du Maurier eine „verleumdete, vernachlässigte und geringgeschätzte Persönlichkeit“ in ihm sieht, zu deren Ehrenrettung sie freilich mit Hypothesen arbeitet, die nicht immer einleuchtend sind. Wenn wir bisher hörten, Branwells Trunksucht sei die Ursache seines wachsenden Verfalls gewesen, und er sei schließlich an Delirium tremens gestorben, verharmlost Frau Du Maurier diese Anfälle und spricht um so mehr von epileptischen Anfällen, die nicht als solche erkannt und mißdeutet worden seien. Oder Branwells unrühmliche Rolle im Hause Robinson, wo er als Erzieher wirkte und schließlich wegen seiner ungehemmt zur Schau getragenen Leidenschaft für die Hausfrau entlassen wurde, wird in dem Buch doch sehr einseitig zugunsten des jungen Bronte und auf Kosten der Dame seines Herzens interpretiert. Auch die Bedeutung des Bruders für das literarische Schaffen seiner Schwestern scheint uns die Autorin zu überschätzen. Sie versucht zu beweisen, „daß keiner der Romane von Charlotte, Emily und Anne je entstanden wäre“, ohne die von Branwell angeregte und gelenkte Phantasiewelt ihrer Kindheit, ja, daß viele Einzelheiten dieser Romane sich in den unveröffentlichten Manuskripten des Bruders finden.

Einleuchtend an Frau Du Mau- riers Deutung ist hingegen der Hinweis auf neurotische Züge ihres Helden, und daß der wesentliche Grund für sein Scheitern als Mensch und Künstler in seiner Unfähigkeit zu suchen ist, zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden und die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und seiner eingebildeten Welt zu überwinden. Wenn man von den Schwestern Bronte sagen kann, daß sie das, was ihnen das Leben versagte, in ihrer Phantasie nachschufen und es in ihrem Werk verdichteten, so gilt für Branwell, daß der Zwiespalt zwischen Sein und Schein ihn zerrieb und in Laster und Tollheit trieb.

Frau Du Maurier schreibt in ihrem Vorwort, daß sie eine Studie des Lebens und des Werkes von Branwell Bronte geben wollte, „die dazu beiträgt, ihm seinen ursprünglichen Platz in der Familie wiederzugeben ...“ Man fragt sich aber doch, ob sie ihre Sympathie für einen in seinen Anlagen zweifellos genialen, aber haltlosen, nie zur Reife gelangten Menschen nicht verführt hat, Dinge in sein Wesen und seine Existenz hineinzulegen, die nicht oder doch nicht so ausgesprochen vorhanden waren. Sie spricht verschiedentlich von „Geheimnissen“ in bezug auf Episoden aus Branwells und seiner Schwestern Leben, die bei näherem Hinsehen gar nicht geheimnisvoll sind und von früheren Biographen ganz plausibel gedeutet wurden. Das Fatale an dem Buch ist, daß man nie genau weiß, was denn nun Wirklichkeit und was Phantasie ist, trotz der Fülle von Zitaten aus zeitgenössischen Quellen und aus den Manuskripten Branwells und seiner Schwestern. Es geht dabei nicht um Verfälschungen der historischen Geschehnisse, aber die Autorin nimmt für deren Auswertung gewisse Freiheiten in Anspruch, die man zwar einem „Künstlerroman“ zubilligt, nicht aber einer sachlich fundierten Biographie, die dieses Buch doch sein will. Zu ihr gehörte auch ein Quellennachweis, der hier fehlt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung