Flucht in die Leidenschaft und die echte Liebe

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Für die heurige Theatersaison im Thalhof in Reichenau nahm sich Helga David die Bearbeitung zweier Prosatexte Arthur Schnitzlers vor: „Sylvesternacht“ und „Die kleine Komödie“. Seine psychologische Feinzeichnung hat sie mit Nestroy’schem Wortwitz angereichert.

Zauberhaft und wie aus einer anderen Zeit steht der Thalhof in Reichenau. Bis zum Anfang dieses Jahres wurde das traditionsreiche Kurhaus, das dessen Wirtin und spätere Schnitzler-Freundin Olga Waissnix ab 1880 zu einem beliebten Sommerfrischeziel berühmter Künstler (Schnitzler, Altenberg, Lenau, Raimund, Nestroy u. a.) etablierte, von der Erbin Rosa Waissnix geführt. Im Moment ist die Zukunft des renovierungsbedürftigen Hauses als Gastbetrieb allerdings ungewiss. Gewiss ist jedoch der starke Zustrom der Theaterbesucher, denn Helga David bespielt seit 1997 den Ballsaal des Thalhofs mit Werken des Genius loci sowie anderer Autoren, die sich in die besondere Atmosphäre des Hauses und der Landschaft fügen.

Nach der ersten Premiere gab es für David einen Überraschungsmoment: Ihr wurde das Ehrenzeichen von Reichenau für ihre Verdienste rund um die Reputation des Thalhofs als Schnitzler-Ort verliehen. Für heuer nahm sich David die Bearbeitung zweier Prosatexte vor.

Welche Kraft hat die Fantasie?

In „Sylvesternacht“ ist Barbara Gassner zeitlos wirkend als Frau Agathe zu sehen, die – gleichsam wie Olga Waissnix selbst – als kluge, lebenserfahrene Liebende die knapp halbstündige Szene beherrscht. Während der im Familienrahmen abgehaltenen Sylvesterfeier flüchtet sie sich – wie auch der junge Emil (Michael Schusser) – in einen Nebenraum, um aus dem Fenster in die traumverlorene Landschaft zu blicken. Die Geschichte einer Freundin (ihre eigene?), die aus den bürgerlichen Eheverhältnissen für einen Augenblick der Leidenschaft flieht, wird zum Leitmotiv der Unterhaltung. Was darf alles möglich sein in einem „anständigen Bürgerhaus“? Welche Kraft hat die Fantasie, die doch der Ursprung eines freien Lebens ist?

Diese Frage führt pausenlos in den zweiten Teil, „Die kleine Komödie“, worin die temperamentvolle Jungschauspielerin Natalie Assmann als Kokotte der Wiener Jeunesse dorée Josefine zwischen Noblesse und Vulgarität überzeugt. An ihrer Seite ist Christian Kainradl als dekadenter Lebemann Alfred zu sehen, ein wenig zu wienerisch-nasal. Sowohl Josefine als auch Alfred sind ihres gesättigten Gesellschaftslebens überdrüssig; in Briefen berichten sie ihren Vertrauten; Josefine schreibt ihrer Freundin Helene nach Paris, Alfred einem Freund nach Neapel (wodurch auch die langjährige Briefbeziehung zwischen Schnitzler und Waissnix zitiert wird). Selbst der Wurstelprater lässt den Vergnügungssüchtigen nur mehr ein schales Gefühl der Leere zurück. Als beide unabhängig voneinander auf die Idee kommen, in die Rolle des ärmlichen Dichters bzw. einer Kunststickerin zu schlüpfen („So ein frischer, junger Mensch sollte man sein!“), überlistet beider Fantasie den wirklichen sozialen Status, und sie empfinden für wenigstens zwei Wochen das Gefühl der echten, unschuldigen Liebe.

David und ihre Schauspieler haben Schnitzlers psychologische Feinzeichnung mit Nestroy’schem Wortwitz angereichert, und so wurde deren Begeisterung für „die gute Luft!“ – als sie einige Tage auf einem Landgasthof verbringen – schließlich zum Bonmot des Abends.

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