Männer, auf den Spuren ihrer selbst

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Eugène Labiches selten gespieltes Stück "Die Affäre Rue de Lourcine" beginnt mit einer Lücke, einer Gedächtnislücke: Der Hausherr Lenglumé erhebt sich - schwer verkatert - von seiner Bettstatt und hat keinen blassen Schimmer, wo er die letzten Stunden verbrachte. Auch hat er keine Idee, wer in seinem Bett schnarcht.

Von Anbeginn geht es in dieser düsteren Komödie um Verschleierung der Wahrheit, die die Figuren selbst nicht kennen. Das Unbewusste hat diesen kleingeistigen Repräsentanten der französischen Bourgeoisie ein Schnippchen geschlagen, und so sind sich diese in erster Linie selbst auf der Spur. Bei dem schnarchenden Bettgenossen handelt es sich um den ebenfalls schwer illuminierten ehemaligen Schulkameraden Mistingue. Zusammen haben sie gefeiert und gezecht, Lenglumés gestrenge Ehefrau soll davon nichts erfahren. So kommt es, dass sich die beiden Männer in wirres Geschwätz verstricken und aufgrund zahlreicher Ungereimtheiten sogar für die Mörder einer jungen Kohlenhändlerin halten.

Räume der eigenen Identität

Regisseurin Barbara Frey hat diese - von Elfriede Jelinek behutsam und mit viel Wortwitz übersetzte - Komödie düster inszeniert.

Die Figuren sind nicht einfach zwei betrunkene Männer, sondern schwer beschädigte, desolate Menschen, die sich selbst nicht kennen und von ihrer eigenen Wahrnehmung in die Irre geführt werden. "Unwissenheit schützt vor Strafe nicht", betont Lenglumé, den Nicholas Ofczarek als Jammerlappen gibt. Er ist ein riesiges Baby, tollpatschig, ängstlich, von allem und jedem grenzenlos überfordert. An seiner Seite spielt Michael Maertens den ebenso infantil wirkenden Mistingue. Die rote Nase deutet auf seine jahrelang gepflegte Praxis der alkoholischen Betäubung gegen Stress. "Immer wenn ich unter Druck bin, muss ich mich betrinken." Dabei öffnet er eine der Doppeltüren des gutbürgerlichen Haushalts und ein Paradies an Spirituosen offenbart sich dem armen Trinker. Am Ende entgleisen die Vorstellungswelten vollends, keine schönen Traumbilder, sondern tiefe Dunkelheit verbirgt sich hinter der schönen Plüschfassade dieser verlogenen Gesellschaft.

Frey geht es in ihrer Inszenierung um den Zustand der inneren Auflösung. Im Niemandsland des Rausches fehlt jegliche Orientierung. So eröffnen sich unbekannte Räume der eigenen Identität. Ihr Männerpaar ist weder ein boulevardeskes Komiker-Duo noch sind es nihilistische Clowns eines Samuel Beckett, sie lassen vielmehr an die naivverwahrlosten Filmhelden der Brüder Coen denken. Es fehlt ihnen an Charme und sympathischer Unbeholfenheit. Die Männer sind seltsam konturlos in dieser Atmosphäre der Abgründigkeit, wo die feinen Damen eiskalt die (Leichen)Säcke aus den Kellern schleppen und die Diener zu ihren Liebhabern machen. Verhalten wirkt diese Produktion, die wenige Lacher, aber viel Applaus erntete.

Weitere Termine

24., 26. April, 2., 8., 14., 17., 27. Mai

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