Magisch-realistische Bilder Lateinamerikas

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Gabriel García Márquez wurde am 6. März 1927 im kolumbianischen Dorf Aracataca, dem Vorbild für das literarische Macondo, geboren. Er arbeitete als Journalist und hatte mit "Der Laubsturm“, "Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“, "Die böse Stunde“ und "Das Leichenbegängnis der großen Mama“ bereits vier Bücher veröffentlicht, als er 1967 durch sein opus magnum "Hundert Jahre Einsamkeit“ Weltruhm erlangte. Erschienen in einer Zeit der Umwälzungen, die Lateinamerika in den Fokus des westlichen Interesses rückten, befeuerte der Roman den Boom lateinamerikanischer Literatur und begeisterte Kritiker ebenso wie über dreißig Millionen Leserinnen und Leser. Das Buch wurde durch seinen magischen Realismus als Erneuerung der Erzählform des Romans gefeiert, da in dem Buch das Fantastische mit derselben Selbstverständlichkeit, mit Witz und überschießender Bildgewalt erzählt wurde wie das "übrige Reale“.

Die Imagination der Realität

In "Hundert Jahre Einsamkeit“ erzählt García Márquez anhand der Familiengeschichte der Buendías die Geschichte des Dorfs Macondo, die auch die Geschichte des Landes während hundert Jahren widerspiegelt. Nach der Gründung ist Macondo ein idyllisches und patriarchalisches, urwüchsiges Dorf. Durch die Einwanderung von Händlern und die Schaffung weltlicher und geistiger Institutionen entwickelt sich der Ort. Er erlebt einen zwanzigjährigen Bürgerkrieg und nach dessen Ende eine Phase des Aufschwungs. Tiefgreifend verändert wird Macondo durch die Ankunft von Bananenexporteuren und die Einwanderung von Plantagenverwaltern aus den USA und Arbeitern, die später einen Arbeitskampf beginnen, der jedoch blutig niedergeschlagen wird. Dann vertreibt die Naturkatastrophe eines vierjährigen Dauerregens die Bananenexporteure, Macondo ist isoliert und verarmt und verschwindet bald von der Landkarte. Soweit die reale Chronologie, es finden sich darin Parallelen zur Geschichte der Gewalt in Kolumbien, das mehrere Bürgerkriege und im Jahr 1928 tatsächlich einen Arbeitskampf gegen die United Fruit Company erlebte.

Neben der realen Wirklichkeit existieren aber noch andere Wirklichkeiten in der kollektiven oder individuellen Vorstellung der Bewohner. Hier nur einige Beispiele: Melchíades’ magische Fähigkeiten verblüffen die Dorfbewohner, Petra Cotes vermehrt immer ihre Herde, wenn sie mit einem Mann zusammen ist und Mauricio Babilonia ist stets von gelben Schmetterlingen umgeben. Die Bananenexporteure wissen, wie man das Wetter beeinflusst und wundersame Vorfälle wie Geistererscheinungen, Wiederauferstehungen und Levitationen ereignen sich.

Die Realität der Imagination

Interessant ist auch, wie sich der Tod in das literarische Universum von Macondo einfügt: Man kann dem Tod, einer blaugekleideten Frau, die nichts Schreckliches an sich hat, persönlich begegnen, Briefe ins Jenseits mitnehmen und von dort zurückkehren. Im Tod besteht sowohl die Zeit fort, weil die Toten altern und ein weiteres Mal sterben können, als auch die Geografie, weil "Macondo für die Toten ein unbekanntes Dorf war, bis Melchíades kam und es auf den buntscheckigen Landkarten des Todes mit einem schwarzen Pünktchen einzeichnete“. Innerhalb der Romanhandlung entstehen auch Legenden: Fünfzig Jahre nach dem Bürgerkrieg sind viele Einwohner Macondos überzeugt, Oberst Aureliano Buendía habe nie existiert. Das Massaker an den Plantagenarbeitern wird ebenfalls völlig vergessen.

Diese überschießende Fantasie, mit der García Márquez nach dem Vorbild der Geschichten seiner Großmutter das Unwahrscheinliche ebenso selbstverständlich und natürlich erzählt wie das objektiv Reale, macht die besondere Faszination seiner Prosa aus. Im Magischen Realismus wird das Fantastische nicht nur vom Erzähler und den Figuren der Handlung, sondern auch vom Leser als ganz natürlich angenommen.

Die unfassbare Wirklichkeit

Als ihm 1982 der Nobelpreis verliehen wurde, erinnerte Gabriel García Márquez aber auch an die Chronisten, die zu Zeiten von Christopher Kolumbus von haarsträubenden Abenteuern berichteten und so zur Legendenbildung über den neuen Kontinent beitrugen. Erwarteten europäische Leser immer noch solche Geschichten? Am Unglaublichsten sei doch die Realität: fünf Kriege und siebzehn Staatsstreiche auf dem lateinamerikanischen Subkontinent: zwanzig Millionen im Alter von unter zwei Jahren gestorbene Kinder, Staaten, die Menschen verschwinden lassen, Gewalt und der massive Exodus der Bevölkerung. Auf diese weder exotischen noch fantastischen Zustände in Lateinamerika hinweisend forderte García Márquez von der westlichen Welt Unterstützung. Sie zeigen auch den Zwiespalt einer europäische Rezeption, die - begeistert von den bunten Bildern und dem tropischen Reichtum der Erzählung - gefährdet war, zu Unrecht klischeehaft zu sein.

Die Romane von Gabriel García Márquez haben in den Übersetzungen von Curt Meyer-Clason und Dagmar Ploetz gemeinsam mit anderen Werken aus der Zeit des Booms das Lateinamerikabild von Generationen zu einem Grad geprägt, dass nachkommende Autoren es gegen diese übermächtigen Erwartungen schwer hatten.

Nicht nur "Hundert Jahre Einsamkeit“, sondern auch "Der Herbst des Patriarchen“, "Chronik eines angekündigten Todes“, "Die Liebe in den Zeiten der Cholera“, "Der General in seinem Labyrinth“ und die Autobiografie "Leben, um davon zu erzählen“, um nur einige zu nennen, sind Welterfolge und werden in Erinnerung bleiben, auch wenn ihr Urheber Gabriel García Márquez, einer der größten Schriftsteller seiner Zeit, am Donnerstag verstorben ist.

* Die Autorin ist Übersetzerin für Spanisch, Englisch und Deutsch sowie Lehrbeauftragte am ZTW der Universität Wien

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