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Wo die Blumen vom Himmel regnen

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Am 6. März, feiert Gabriel Garcia Märquez seinen 65. Geburtstag. Der karibische Romancier wurde mit dem lateinamerikanischen Boom der sechziger Jahre und seinem 1967 veröffentlichten magisch-realistischen Epos „Hundert Jahre Einsamkeit” weltberühmt, erhielt 1982 den Nobelpreis für Literatur und ist jetzt eine lebende Legende der tropischen Welt.

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Am 6. März, feiert Gabriel Garcia Märquez seinen 65. Geburtstag. Der karibische Romancier wurde mit dem lateinamerikanischen Boom der sechziger Jahre und seinem 1967 veröffentlichten magisch-realistischen Epos „Hundert Jahre Einsamkeit” weltberühmt, erhielt 1982 den Nobelpreis für Literatur und ist jetzt eine lebende Legende der tropischen Welt.

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In einem kleinen kolumbianischen Dorf namens Aracataca am Magdalena-Strom, wo die Bananen wachsen, wurde Gabriel Garcia Märquez am 6. März 1928 geboren. Nur wenige Jahre nach seiner Geburt zogen seine Eltern in eine andere Stadt und ließen den Erstgeborenen, der allmählich 15 Geschwister haben sollte, bei den wohl-situierten Großeltern. In der Obhut der „magischen Welt” seiner von Visionen geplagten Großmutter und der „realistischen Welt” seines fabulierfreudigen Großvaters verbrachte er seine tropisch verträumte Kindheit, die für die spätere literarische Tätigkeit von entscheidender Bedeutung war. Nach dem Tod des Großvaters wurde er mit acht Jahren in die karibische Küstenstadt Barranquilla fortgeschickt, schrieb dort 16j ährig erste phantastische Erzählungen und beendete auf dem Jesuitenkolleg mit 19 Jahren seine Schulzeit. Zum Jurastudium ging Gabriel Garcia Märquez in die Hauptstadt Bogota. Doch schon nach kurzer Zeit brach er das Studium ab und widmete sich fortan ausschließlich der Literatur.

Mit journalistischem Tagesgeschäft begann er als Reporter für die Zeitung „El Heraldo” von Barranquilla und ab 1954 für die große Tageszeitung „El Espectador” von Bogota. Nachdem er mit seiner 14teiligen Serie „Die Geschichte eines Schiffbrüchigen...”, die die Erlebnisse eines schmuggelnden Offiziers der kolumbianischen Marine und seine Errettung in der Karibik schildert, die Auflage des Blattes in die Höhe schießen ließ, avancierte er 1955 zum europäischen Auslandskorrespondenten in Genf. Kurz zuvor veröffentlichte er seinen ersten Roman „Laubsturm”, eine stilistisch exzellente Hommage an den Poeten Rüben Dario, den nikaraguanischen Begründer der modernen Literatur Lateinamerikas. Der selbstverlegte Romanerstling blieb jedoch vorerst ohne ersichtlichen Erfolg.

Ein Kenner Europas

Von Genf aus zog er vorübergehend nach Rom und reiste durch Osteuropa. Gabriel Garcia Märquez ließ sich in Paris nieder und erfuhr plötzlich von den politischen Turbulenzen seiner liberalen Zeitung, die vom kolumbianischen Diktator Gustavo Rojas Pinilla unvermittelt verboten wurde. Im Paris seiner Hungerjahre schrieb er den idyllischen Kurzroman „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt” (1958). Danach ging er wieder ins Heimatland Kolumbien zurück, heiratete seine Frau Mercedes und zog mit ihr kurzfristig in die venezolanische Hauptstadt Caracas. Erneut zurückgekehrt nach Bogota, gründete er 1961 das Auslandsbüro der kubanischen Nachrichtenagentur „Prensa Latina” und veröffentlichte im Jahr 1962 zwei weitere Romane mit den Titeln „Unter dem Stern des Bösen” und „Das Leichenbegängnis der Großen Mama”, die nachhaltiger auf ihn aufmerksam machen sollten.

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in New York lebte er bis 1967 in Mexiko Stadt, schrieb Drehbücher für diverse Filme und verschrieb sich dort für eineinhalb Jahre den imaginären Obsessionen seines epischen Hauptwerkes, betitelt „Hundert Jahre Einsamkeit”, das innerhalb von zwanzig Jahren die spektakuläre Gesamtauflage von weltweit 350 Millionen Exemplaren erreichte. Der Roman schildert auf zwei Erzählebenen die kolumbianische und kontinentale Ikonographie der wiederentdeckten Identität Lateinamerikas: chronologisch-historisch und mythisch-phantastisch. Die Geschichte und der Mythos dieser epischen Pilgerfahrt zwischen entarteter Utopie und verlorener Freiheit, die neu erfunden werden mußte, wurde zum fiktiv-wirklichen Inbegriff der lateinamerikanischen Kultur. Die Gründung des legendären Macondo, einer Insel der Phantasie, „von allen Seiten mit Wasser umgeben”, spiegelt unmittelbar den Ursprungsmythos der Entdeckung Amerikas wider, die wiederum als eine vermeintlich verheißungsvolle Überfahrt begonnen hatte: „In jenem Paradies aus Feuchtigkeit und Schweigen vor dem Sündenfall, wo die Stiefel in dampfenden Ölpfützen versanken und goldene Salamander köpften, wurden die Männer der Expedition von ihren ältesten Erinnerungen heimgesucht.”

Zu den wichtigsten Inspirationsquellen seiner Kunst rechnet der Autor die Erinnerungen an seine Großmutter, die eine großartige Geschichtenerzählerin war und mit ihrer nachhaltigen Erzählstimme zu einer Art Fundgrube für seine schöpferische Phantasie wurde. In einem Interview skizzierte er das Ambiente seiner Kindheit bei den Großeltern: „Sie besaßen ein riesiges Haus voller Geister. Sie waren sehr abergläubisch und leicht zu beeindrucken. In jeder Ecke gab es Skelette und Erinnerungen, und nach sechs Uhr abends wagte man sein Zimmer nicht mehr zu verlassen. Es war eine Welt phantastischen Terrors.” Mit künstlerischer List und bisweilen barock anmutender Meisterschaft führt Garcia Märquez seine Leser in die poetische Zeiterfahrung einer mythisch verzauberten Gegenwart, wo mitunter Blumen vom Himmel regnen.

Im Jahr 1967 zog der karibische Autor nach Barcelona, wo auch seine heuer sehr erfolgreiche katalanische Literaturagentin Carmen Bal-cells ansässig ist, die quasi durch ihn zu ihrem Berufszweig kam, als sie einst den Verkauf der nordamerikanischen Lizenzrechte eines seiner Frühwerke für miserable 1.000 US-Dollar vermittelte, worüber beide sehr froh waren.

Der peruanische Autor Mario Vargas Llosa sowie der mexikanische Romancier und Essayist Carlos Fuentes luden ihn neben anderen großen lateinamerikanischen Autoren, darunter den argentinischen Erzähler Julio Cortäzar, den paraguayischen Romanschriftsteller Augusto Roa Bastos und den kubanischen Prosaautor und Musikkritiker Alejo Carpentier, 1967 in London ein, um sich an einem Buchprojekt über nationale Tyrannen mit dem Titel „Die Väter der Vaterländer” zu beteiligen. Das Projekt scheiterte, jedoch gingen daraus unvorhergesehen die bedeutsamen Diktatoren-Romane Lateinamerikas hervor. Dazu gehört Gabriel Garcia Märquez' visionäres Panoptikum einer grotesken Gewaltherrschaft, die über den eigenen Tod des Tyrannen hinaus magisch anhält, unter dem Titel „Der Herbst des Patriarchen”.

Literarisches „Zugpferd”

Mit dem Erscheinen dieses neuen Romanwerkes im Jahr 1975 zog es den Autor nach Lateinamerika zurück, wo er seitdem wieder in Mexiko lebt und schreibt. Zeitweilig besucht er Kuba und Kolumbien, wo er vor einigen Jahren in Bogota auch die seit langem wiedereröffneten Redaktionsräume der Tageszeitung „El Espectador” aufsuchte. Hier hatte er den ersten großen Erfolg mit der hohen Kunst seines schriftstellerischen Handwerks erlebt, die 1982 mit dem Stockholmer Literaturnobelpreis gewürdigt wurde. In den achtziger Jahren entstanden weitere berühmte Prosawerke, darunter der spannend geschriebene Kurzroman „Chronik eines angekündigten Todes” (1981), das widersprüchliche Melodram „Liebe in den Zeiten der Cholera” (1985) und der melancholische Roman über die letzten Lebensjahre des Libertador Simon Bolivar, betitelt „Der General in seinem Labyrinth” (1989).

Die Schaffensfreude, Kunstfertigkeit und Vitalität seiner magisch-surrealen Vorstellungswelt ist weiterhin ungebrochen und verspricht den Erhalt eines verlockenden Kulturguts Lateinamerikas in Gestalt seiner metaphorisch-realen Lesart, die an das „wunderbar Wirkliche” erinnert, wo sonst graue Monotonie, gespenstische Stille und der Tod lauern.

Im vergangenen Jahr beendete Gabriel Garcia Märquez eine Prosasammlung über Lateinamerikaner in Europa, betitelt „12 Geschichten aus der Fremde”, die heuer in deutscher Übersetzung beim Verlag Kiepenheuer & Witsch pünktlich zu seinem 65. Geburtstag erscheint.

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