6793544-1970_50_12.jpg
Digital In Arbeit

Ein kolumbianischer Grass

Werbung
Werbung
Werbung

Gabriel Garcia Märquez, der kein Intellektueller sein will, für Ideen nichts übrig zu haben behauptet und sich „wie ein Stier in die Arena stürzt“, wenn er schreibt, anerkennt ein einziges literarisches Kriterium: Selbst außerstande, „ein Buch wei-terzulesen, wenn es mich auch nur im geringsten langweilt“, muß auch in seinen Romanen „immer etwas geschehen. Deshalb bleiben meine .Vorbilder' die Ritterromane, wo einen das ständige Auf und Ab der Handlung vom ersten bis zum letzten “Wort in Atem hält“. Gabriel Garcia Märquez wird dieser seiner Forderung in außerordentlichem Maß gerecht. Auf den ersten sieben Seiten von „Hundert Jahre Einsamkeit' zieht ein Zigeuner einen Magneten durch das gottverlassene Dorf Macondo, der allerlei Hausgerät von seinen Plätzen wirft und die Nägel sich im Holz winden läßt, rindet Jose Arcadio Buendia auf der Suche nach Gold eine vom Rost zusammengelötete Ritterrüstung mit einem Skelett, das ein Medaülon mit der Haarlocke einer Frau um den Hals trägt, wird eine neue Art der Kriegsführung mit Hilfe von Brenngläsern entwickelt, und schließlich Melchiades, der unterdessen gealterte Zigeuner, Freund des Jose Arcadio Buendia, der seine Neigung zur Alchemie entdeckt.

Nach derart furiosem Beginn verlangsamt der Fluß der Erzählung freilich sein Tempo, ohne deshalb aber zu stocken. Über hundert Jahre oder etwas mehr spannt sich der Bogen der Handlung: das Auf und Ab der Familie Buendia, die unter dem Gesetz angetreten ist, aufzubauen, um wieder niederzureißen, bis der Letzte der Sippe beim Lesen in den Weissagungen des zweimal gestorbenen Melchiades vom alles zerstörenden Sturm überrascht wird.

Die Übersetzung von Curt Meyer-Clason läßt auf Grund der Wortwahl an einigen Stellen ein gewisses Mißtrauen, aber an keiner Stelle Zweifel am literarischen Rang des Originals aufkommen. Gabriel Garcia Märquez kann allenfalls mit dem Günter Grass der „Blechtrommel“ verglichen werden — wenn es gelänge, den Roman wirklich totzureden, solche Leute würden die Gattung immer wieder von neuem erfinden. Er ist ein Erzähler mit langem Atem (auf Seite 300 findet man es fast befremdend, nur noch 176 weitere Seiten vor sich zu haben) und schreibt eine Sprache von einfacher, klarer Schönheit ohne stilistische Kapriolen (das unterscheidet ihn von Grass). Eine seiner Stärken ist ein trockener, in seiner Trockenheit als Verfremdungsmittel wirkender Witz, der wohl den Rezensenten des „Times Literary Supplement“ zu dem Mißverständnis veranlaßte, „Hundert Jahre Einsamkeit“ sei ein Meisterwerk der Komik.

Märquez ist im Besitz einer raffinierten Erzählökonomie und einer der großen Beschreiber, vor allem materieller und seelischer Verfalls-zustände: „ ,Feuer!' schrie sie einmal entsetzt und säte einen Augenblick lang die Panik im Haus, doch was sie verkündete, war nur der Brand eines Pferdestalls, den sie im Alter von vier Jahren erlebt hatte. Sie vermengte die Vergangenheit dergestalt mit der Gegenwart, daß niemand in den zwei oder drei Blitzen der Erleuchtung, die sie vor dem Sterben erlebte, mit Sicherheit behaupten konnte, ob sie von dem sprach, was sie fühlte, oder von dem, was sie erinnerte. Nach und nach schrumpfte sie und wurde so sehr Embryo und Mumie zu Lebzeiten, daß sie in ihren letzten Monaten einer getrockneten Zwetschke in einem Nachthemd, daß ihr stets erhobener Arm zuletzt einer Affenpfote glich. Mehrere Tage verharrte sie reglos, und Santa Sofia von der Frömmigkeit mußte sie schütteln, um sich zu überzeugen, daß sie noch lebte, und setzte sie sich sogleich auf den Schoß, um sie löffelweise mit Zuckerwasser zu ernähren.“ „Hundert Jahre Einsamkeit“ beginnt mit einem Katarakt witziger Einfälle und endet in der Beschreibung seelischer Wüsten, menschlicher Einsamkeiten, in Kälte und Leere erstarrender Innenwelten, mit erschreckenden Kurzdialogen: auf dem Totenbett verweigert die im Haß versteinerte Amaranta eine letzte Versöhnung mit den Worten „es lohnt nicht mehr“.

Was dazwischen liegt, ist ein höchst seltsames Amalgam aus realistischer Erzählung, äußerst sparsamen, aber intensiven historischen Anspielungen und unberührt-chronistisch wiedergegebenen wunderbaren Ereignissen: die diversen Gespensterauftritte oder die Himmelfahrt Remedios' der Schönen werden nicht anders erzählt als die Geschicke des Obersten Aure-liano Buendia in 32 Kriegen und Aufständen (die er allesamt verliert). Hierzulande weiß niemand genau, was Märquez, der ehemalige kolumbianische Jesuitenzögling und zeitweilige Castro-Korrespondent in New York, der aber bald nach .Mexiko ging und jetzt in Barcelona lebt, bisher alles geschrieben hat. Im Alter von 42 Jahren wuijde er erstmals außerhalb des spanisch-südamerikanischen Kultuxkreises zur Kenntnis genommen. Es ist sozusagen die Begegnung mit einem fertigen Klassiker, einem Mann im Vollbesitz seiner Mittel. Die Neuauflage bestätigt es.

HUNDERT JAHRE EINSAMKEIT. Roman von Gabriel Garcia Märquez. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Leinen, 478 Seiten. DM 22.—.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung