Religion im Mutterschoß

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Wird unter Frömmigkeit die bloße Befolgung göttlicher Instruktionen gemeint, dann bleibt kaum Raum fürs Ästhetische in den Religionen. Wird unter Frömmigkeit jedoch die Vervollkommnung des Menschen, die das Subjekthafte des Menschen betrifft, gemeint, dann ist jede Hervorhebung des Menschlichen in uns Menschen ein Akt der Frömmigkeit.

Dies muss kein religiöses Ritual sein. Auch ein schönes Lied, eine bewegende Geschichte oder ein ergreifender Film kann ein Medium der Frömmigkeit sein. So wie auch ein Spaziergang, oder sogar ein Gesellschaftsspiel mit seiner Familie oder Freunden einen Beitrag zur Frömmigkeit leisten können.

Das Kriterium dabei ist die Selbsterkenntnis. Denn Vervollkommnung setzt voraus, dass der Mensch sich selbst erkennt. Und wer sich kennt, der kennt Gott. Zur Selbsterkenntnis ist allerdings eine Interaktion in der Gesellschaft notwendig. Wie sonst will man wissen, ob man in der Lage ist, zu lieben, zu verzeihen, bescheiden zu sein und anderen zu wünschen, was man sich selbst wünscht?

Mich faszinierte es immer, wie sehr meine Oma, die Analphabetin war, es liebte, Koranrezitationen im Radio zuzuhören, obwohl sie im Grunde kaum etwas vom Inhalt verstand. Sie war immer von der Rezitation ergriffen. Es hat lang gedauert, bis ich verstanden habe: Nicht nur das Kognitive bindet an die Religion, sondern gerade das ästhetische Moment ergreift uns.

Es hat aber auch lang gedauert bis ich verstanden habe, dass sich nur solche Menschen von der Religion ergreifen lassen, die lieben können. Religiöses Lernen beginnt somit mit der ersten Erfahrung von Liebe, also schon im Mutterschoß. Uns trennen in der Tat, wie der Religionspädagoge Anton Bucher betont, weniger die religiösen Gräben, sondern vielmehr, ob wir lieben können oder nicht. Daran lässt sich Frömmigkeit messen.

Der Autor ist Prof. f. Islam. Religionspädagogik an der Uni Münster

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