Sherlock Holmes kann nicht sterben

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Am 4. Mai 1891 wollte Arthur Conan Doyle den berühmtesten Detektiv der Welt sterben lassen. Doch die Totenruhe währte nicht lange und Sherlock lebt bis heute.

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Am 4. Mai 1891 wollte Arthur Conan Doyle den berühmtesten Detektiv der Welt sterben lassen. Doch die Totenruhe währte nicht lange und Sherlock lebt bis heute.

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Der Fall ist da. Aber der Reichenbach ist weg. Ein Paradoxon ganz nach dem Geschmack von Sherlock Holmes, dem Meister der Deduktion und logischen Synthese. 125 Jahre nach dem angeblichen "Final Problem" des Detektivs schlängelt sich anstelle von stäubenden Wassermassen nur mehr ein fadendünner Rinnsal über den glatten Fels. Und im Kessel des Reichenbachfalls, in dessen schäumender Gischt der Meisterdetektiv und sein schlimmster Feind am 4. Mai 1891 scheinbar für alle Zeiten untergetaucht sind, scharren Baumaschinen und wachsen Betonumfriedungen für ein Elektrizitätswerk aus dem Kies. Enttäuschung pur.

"Sie Scheusal!"

Das trifft auch den Kummer, den Sherlock-Holmes-Fans lange Zeit mit diesem Wasserfall im Berner Oberland verbunden haben. Mit den Worten "Sie Scheusal!" beginnt der Brief einer Leserin an Sir Arthur Conan Doyle, nachdem dieser in der Weihnachtsausgabe des Strand Magazine 1893 seine literarische Schöpfung im Zweikampf mit Professor Moriarty, dem "Napoleon des Verbrechens", in die Schlucht des Reichenbachfalls hat stürzen lassen. Viele Leser weinten öffentlich über den Verlust und gingen mit schwarzen Armbinden und Trauerflor an den Hüten auf die Straße. Zwanzigtausend kündigten das Abonnement und sogar der Prince of Wales soll zutiefst bestürzt gewesen sein.

Doch Conan Doyle konnte nicht anders. Sherlock Holmes musste sterben, bevor dieser seinen Autor vollends ins Abseits drängte. Doyles literarisches Ansehen stand auf dem Spiel. Sherlock Holmes war schon lange nicht mehr nur eine Romanfigur, er war für Doyles Leser mindestens so wirklich wie der Autor selbst. Für viele sogar wirklicher, warum sollten sie sonst Anfragen, Bittschreiben oder Gratulationen an einen fiktiven Detektiv und seine fiktive Londoner Adresse Baker Street 221b schicken? Selbst seriöse Zeitungen fragten angesichts ungeklärter Verbrechen: "Wo ist Sherlock Holmes? Ist die Polizei überhaupt in der Lage, diesen Fall allein zu lösen?"

Dazu passt, dass Holmes und nicht sein Schöpfer zum einzigen Ehrenbürger von Meiringen, der Schweizer Gemeinde unterhalb des Reichenbachfalls, ernannt worden ist. In Bronze gegossen, sitzt Holmes heute in Lebensgröße und Pfeife rauchend vor der Englischen Kirche von Meiringen. Umgewidmet in ein Museum für Devotionalien aus dem Krimireich des Meisterdetektivs ist das Kirchlein heute, wie auch die Baker Street, ein Wallfahrtsort für "Sherlockianer" aus aller Welt. Wenigstens der Kirchplatz ist nach Conan Doyle benannt.

Ein touristischer Abstecher während einer Vortragstournee durch die Schweiz hatte den Autor ins Berner Haslital geführt. Und als er am Reichenbachfall dem Wasser auf seinem Sturz in die Tiefe nachschaute, hatte er die Antwort auf seine drängendste Frage vor Augen: In dieser Gischt konnte er seinen Holmes standesgemäß sterben und untergehen lassen.

Die Frau an der Museumskassa bedauert, dass derzeit kein Reichenbach den Fall hinunterstürzt. Die Bauarbeiten seien im Verzug, sagt sie, hoffentlich werden sie bis zu den Jubiläumsfeiern im Mai fertig sein, nicht auszudenken, wenn die Fangemeinde aus nah und fern auf das rauschende Fest für Sherlock verzichten müsste. Hätte schon zu Doyles Zeiten die Elektrizitätswirtschaft das Wasser des Reichenbachfalls abgedreht, wäre Holmes wahrscheinlich in einer Gletscherspalte gelandet. Denn wenn es um seinen Detektiv ging, dann schöpfte Doyle sowohl die Handlung als auch die Charaktere und ihre Eigenschaften vor allem aus seinem eigenen Leben.

Das Vorbild für den Meisterdetektiv hatte Doyle während seines Medizinstudiums in Edinburgh getroffen: Dr. Joseph Bell, Dozent in Klinischer Chirurgie, lehrte seine Studenten vor allem, ihre Beobachtungsgabe zu schärfen, damit sie aufgrund winziger Details Herkunft, Hintergrund und Zustand ihrer Patienten erfassen konnten. Nachdem Doyle verraten hatte, dass es Bell war, "dem ich Sherlock Holmes zu verdanken habe", wurde Bell über Nacht zum Kriminal-Experten und zu Gerichtsprozessen als Zeuge geladen.

Ein Goldesel

Meiringen wirbt schon auf der Ortstafel mit seinem berühmtesten (Un-)Toten. Ein Wanderweg führt zum Ort des Todeskampfs zwischen Holmes und seinem ebenbürtigen Widersacher Moriarty. Gehfaule können mit der Reichenbachfall-Bahn hinauffahren. Zum Jubiläumsfest steht ein Video-Contest mit dem "Goldenen Sherlock Holmes" als Preis auf dem Programm. Das "Sherlock-Holmes-Monster-Dinner" im Gasthaus oberhalb des Wasserfalls gibt es das ganze Jahr. Hauptsache, der Schweizer Franken rollt, so wie das britische Pfund über den Souvenir-Ladentisch des Sherlock-Holmes-Museums in der Londoner Baker Street 221b. Das Haus gibt es erst, seit findige Vermarkter einen Backsteinbau in dieser Straße zum Wohnbüro des Detektivs ummodeln konnten -die Hausnummer entspricht zwar nicht dem Standort, aber mit Details hat es schon Conan Doyle nicht immer sehr genau genommen.

So wie für das heutige Holmes-Merchandising war der Detektiv auch für seinen Erfinder nämlich vor allem eins: der Goldesel, mit dem er sich ein herrschaftliches Leben und seine andere und für ihn bedeutendere Schriftstellerei (zum Beispiel über den Buren-Krieg) finanzieren konnte. Doyle schraubte seine Honorarforderungen mit jeder neuen Holmes-Episode in die Höhe - vor allem in der Hoffnung, die Verleger würden ablehnen und von sich aus den Holmes-Spuk beenden. Doch die Magazine zahlten jeden Preis und Doyle schrieb neben den Entschluss, seine Schöpfung zu töten, den Vermerk in sein Tagebuch: "Es war mir klar, dass ich damit auch mein Bankkonto in dem Wasserfall versenkte."

Ein Eisengeländer verhindert heute, dass Nachahmungstäter sich den Reichenbachfall hinunter stürzen. Eine Bronzeplakette und ein Plastikblumenkranz mit Parte erinnern an das vermeintliche Ende des Meisterdetektivs. Aber kein Geländer hindert daran und keine Aufschrift warnt davor, diese und andere Holmes-Geschichten für bare Münze zu nehmen. Im Gegenteil: Meiringen wie Baker Street inszenieren die Fiktion als Realität - und haben Erfolg damit, so wie gerade auch wieder Holmes-Neuverfilmungen boomen.

Warum? Die Holmes-Erklärliteratur sagt: Weil es so einen wie Sherlock Holmes einfach geben muss. Geschaffen in der unsicherheitsschwangeren Endphase des viktorianischen Zeitalters, vermittelt diese logische Denkmaschine Sicherheit. "Verbrechen ist üblich, Logik ist selten. Darum ist es weit mehr die Logik als das Verbrechen, mit dem Sie sich befassen sollten", belehrt Holmes seinen Begleiter Dr. Watson. Reine Vernunft besiegt das Chaos des Verbrechens - oder in Holmes' eigenen Worten: "Wenn Sie alles eliminiert haben, was unmöglich ist, dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein." Logisch, so einfach kann die Welt für einen Meisterdetektiv sein.

So einfach

"Very Well. A. C. D." So kurz und eindeutig ist die Antwort, die Conan Doyle im Frühjahr 1903 an die US-Zeitung Collier's Weekly zurückschickt, die ihm Unsummen für eine Auferstehung von Sherlock Holmes geboten hat. Es dauert nicht lange und Holmes taucht putzmunter in "The Empty House" wieder auf. Nur Moriarty war einst den Reichenbachfall hinunter gestürzt. Holmes hatte die Auszeit für eine Asienreise und einen Besuch beim Dalai Lama genutzt. Ja, so einfach kann die Welt für einen Meisterdetektiv sein

Aber Moment, da unten im Wasserfallkessel, wo sonst die Gischt tobt, da geht doch jemand, da sucht wer was -Moriarty? Der Reichenbach ist weg, aber der Fall ist da - immer noch da. "Exzellent!" rufe ich. "Elementar", sagt er, "Watson, die Jagd beginnt!"

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