Tradition, erfahrbar als kraftvolle Gegenwart

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In seinem einzigartigen Werk spiegeln sich 3000 Jahre europäische Bildhauerkunst wider. Zum neunzigsten Geburtstag des Bildhauers Joannis Avramidis am 26. September.

Schon vor zehn Jahren standen die Figuren wie Baumstämme oder Säulen dicht um das Ateliergebäude im Wiener Prater. Hier wohnt und arbeitet Joannis Avramidis gemeinsam mit seiner Frau, der Bildhauerin Annemarie Avramidis. Hier hat sich ein Lebenswerk gesammelt. Die Spuren des Schaffens sind durch Jahrzehnte zu verfolgen. Freilich ist auch vieles hinausgegangen, in bedeutenden Sammlungen und im öffentlichen Raum präsent. Doch hier, in diesem stillen Winkel eines umzäunten Areals, in dem sich die Bildhauerateliers des Bundes befinden, ist im Verborgenen etwas Einzigartiges anzutreffen. Das Werk eines Künstlers, der als ein Einzelner und Einziger etwas geschaffen hat, das die drei Jahrtausende alte Tradition europäischer Bildhauerkunst als eine kraftvolle Gegenwart erfahrbar macht. Die strenge geometrische Ordnung am Beginn der griechischen Kunst ist in diesem Werk genauso gegenwärtig wie die schwellende Kraft der Figuren des sechsten Jahrhunderts und das Verständnis der Figur als eines Beziehungsgefüges in der klassischen Zeit des fünften Jahrhunderts.

Erscheinung der menschlichen Gestalt

Von den psychologischen Elementen der Figuren der hellenistischen Zeit - damals begann eine Art Kokettieren mit dem Blick des Betrachters - sind die Figuren von Joannis Avramidis denkbar weit entfernt. Ihnen fehlt alles Impressionistische. Genauso ist ihnen jede Expression fremd. Sie stellen etwas dar. Doch hat dieses Darstellen nichts zu tun mit individuellem Ausdruck. Es werden keine Geschichten erzählt. Sind diese Figuren zeitlos? Auch das nicht, da sie ja in einem außerordentlichen Maß gegenwärtig sind. Zeitlos aber vielleicht in dem Sinn, dass sie über die Zeiten hin gegenwärtig halten können, was "Figur“ in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bedeutet hat. Die Erscheinung der menschlichen Gestalt hat in den Figuren von Joannis Avramidis eine wohl auch für die Zukunft gültige Form gefunden. Nur in unserer Zeit konnte diese Form gefunden werden. Dass es geschah, ist Joannis Avramidis zu verdanken.

Rechter Winkel und Kreissegment

Eine geistige Verwandtschaft verbindet Avramidis nicht nur mit der griechischen Bildhauerei, sondern auch mit Künstlern der frühen Renaissance, mit Paolo Uccello oder Piero della Francesca, und ebenso mit einigen Künstlern des vergangenen Jahrhunderts, Constantin Brancusi, Wilhelm Lehmbruck und Oskar Schlemmer. Das Element des Konstruktiven und eine Leidenschaft für die Figur ist ihnen allen eigen. Joannis Avramidis, der als Zwangsarbeiter aus Athen nach Wien geraten ist und hier nach dem Krieg an der Akademie der bildenden Künste sein Studium begann, hat sehr früh zu einem Aufbau der Figur aus horizontal geschichteten Elementen und vertikalen Schnitten gefunden. Meist mehrere Achsen bilden den Mittelpunkt von Kreisen unterschiedlichen Durchmessers. Wie Schichten liegen diese Kreise übereinander. Aus vertikalen und horizontalen Elementen wird so das Gerüst einer Skulptur geschaffen. Es erinnert an Trägerelemente und Stockwerkplatten einer Gebäudekonstruktion. Der rechte Winkel bestimmt den inneren Aufbau, das Kreissegment die äußere Form.

Die streng geschlossene und pralle Vitalität der früheren Figuren lässt sich mit Skulpturen der archaischen Zeit des sechsten Jahrhunderts vergleichen. In den Sechzigerjahren entwickelt Avramidis Bandfiguren, die in sich eine Beziehung darzustellen vermögen. Das geschieht durch den Aufbau um eigenständige Achsen oder durch das Umbiegen der Achse in einem Kopfstück. Mit formalen Mitteln des zwanzigsten Jahrhunderts wird etwas gestaltet, das eine Verwandtschaft zu Figuren der griechischen Klassik besitzt. Über die griechische Tradition hinaus führt die Kunst von Avramidis insoweit, als sie das Bild des Menschen aus dem Studium der Natur und dem Bewahren einer überpersonalen Ordnung gewinnt.

Von Anfang an hat ein intensives Zeichnen nach dem Modell die bildhauerische Arbeit begleitet. Ja mehr noch, diese Arbeit wurzelt im Zeichnen nach der Natur, im genauen Eingehen auf die Erscheinung von Menschen und Bäumen. Doch was hier gewonnen wurde, hat Avramidis dann in eine strenge Konstruktion eingebaut, die geistig-mathematischen Ursprungs ist und nichts Abbildendes hat. Der Bau dieser Figuren folgt auch nicht den Anforderungen des Materials. Dieses hat sich den Ansprüchen der Konstruktion zu fügen, es wird in das Gerüst eingefügt. Andererseits sind die Skulpturen alles andere als nach einer Formel gefertigte Produkte. Sie entstammen der leidenschaftlichen Suche nach der strengen Form, der denkbar spannungsvollsten Oberfläche. Sie sind Darstellung praller Vitalität, ohne die Beiläufigkeiten gefühlsmäßigen Ausdrucks.

"Ebene höchster Positivität“

So haben die von Joannis Avramidis geschaffenen Figuren eine Gültigkeit, die allen gegenwärtigen Tendenzen einer Auflösung und Zertrümmerung der menschlichen Gestalt gegenüber bestehen bleibt. "Es steht außer Zweifel, dass das Werk von Avramidis, der die Sache der Plastik - gleichsam vom Nullpunkt ausgehend - ohne jede Tendenz zu kritischer oder gar destruktiver Negation auf eine Ebene höchster Positivität des Ideal-Absoluten zu erheben vermochte, sich als exemplarischer Entwurf in seiner Zeit behauptet.“ (Michael Semff, Avramidis. Skulpturen und Zeichnungen, München 2005, 310) Das Erstaunliche ist, dass dieses Werk eines Einzelnen nach allen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts möglich war. Und dass all das in Wien geschah. Es ist seit Jahren sehr still um Joannis Avramidis geworden. Doch lebt in diesem stillen Winkel des Wiener Praters ein Künstler von europäischem Rang. Am 26. September vollendet er sein neunzigstes Lebensjahr. Ihm sei von Herzen gedankt.

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