Verletzlich und brutal

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Stets im dunkelblauen Anzug mit Hut, die Zigarette im Mundwinkel, so schlenderte Ignaz Kirchner durch seinen Wohnbezirk, die Josefstadt. In sich gekehrt memorierte er Texte. Für jede Rolle bereitete er sich intensiv vor, sammelte Bilder, Gegenstände und Zeitungsausschnitte. In Wien war Kirchner erstmals 1987 zu sehen. George Tabori besetzte ihn als Schlomo Herzl in seiner Uraufführung von "Mein Kampf". Nach Engagements in Stuttgart, Berlin und Hamburg wollte Kirchner nur für diese Produktion nach Wien kommen, daraus wurden 31 Jahre. Am letzten Mittwoch, dem 26. September, verstarb er 72-jährig. Bösewichte oder zwiespältige Kerle zählten zu seinen Lieblingsfiguren. 1990 reüssierte er als Jago in Shakespeares "Othello" an der Seite von Gert Voss, der genau an Kirchners 68. Geburtstag - dem 13. Juli 2014 -verstarb. Die Inszenierung erlangte Kultcharakter, 2012 sagte er im FURCHE-Gespräch: "Meine Lesart von Jago war eine ganz spezielle. Wenn man eine so negative Rolle spielt, dann muss man besonders die positiven Elemente suchen. Ich mache das auch privat. Ich versuche immer, etwas Schönes zu finden. Auch schlimme Menschen haben irgendein Detail, das attraktiv ist." Ambivalenz und Vielschichtigkeit gaben all seinen Figuren den Reiz zwischen Verletzlichkeit und Brutalität, einmal wirkte er wie ein schnoddriger Kauz, dann wieder fragil und brüchig. Zusammen mit Gert Voss wurde Kirchner mehrfach zum "Schauspieler des Jahres" gekürt. Immer wieder waren die beiden als tragikomisches Duett zu sehen. Peter Zadek besetzte sie in "Kaufmann von Venedig" gegen den Typ, auch diese Aufführung wurde legendär. Voss und Kirchner inszenierten sich auch selbst, etwa in Genets "Die Zofen" sowie Neil Simons "Sunshine Boys". Um Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und Hassliebe geht es in Bernhards "Elisabeth II." Famos stellte Kirchners Spiel Hierarchien auf den Kopf. Er war dort widerständig, wo er als Diener besetzt war und zeigte ängstliche Abhängigkeit, wenn er den Herrn gab, etwa als Pozzo in "Warten auf Godot". Gedreht hat er selten. "Im Fernsehen sieht man zumeist nur Klischee-Psychologie", so Kirchner, dessen Vorname eigentlich Hanns-Peter lautete. Kirchner gestaltete auch Soloprogramme, er las Robert Walsers "Der Spaziergang" und Fernando Pessoas "Buch der Unruhe". Im letzten FUR-CHE-Gespräch zitierte er daraus dessen Sätze: "Wie rasch vergeht doch alles, was so geht, wie schnell verstummt doch alles vor den Göttern und alles ist so wenig. Wir wissen nichts und Phantasie ist alles."

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