Wissenschaft jubilierte, Öffentlichkeit ignorierte

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Historiker loben den wissenschaftlichen Ertrag des Gedankenjahres und beklagen die Ignoranz des Publikums.

Michael Krassnitzer

Der wissenschaftliche Ertrag dieses Jahres ist beträchtlich", freut sich Gerald Stourzh. Stellvertretend für die österreichischen Historiker zieht der emeritierte Universitätsprofessor für seine Zunft eine positive Bilanz des Gedankenjahres. Stourzh verweist auf zahlreiche wissenschaftliche Veranstaltungen; 60 Publikationen zählt das Bundeskanzleramt, viele davon noch gar nicht erschienen, etwa der Band zur internationalen Staatsvertragskonferenz, die im Mai an der Akademie der Wissenschaften stattfand - ein wissenschaftliches Großereignis. Was den Niederschlag der wissenschaftlichen Anstrengungen in der Öffentlichkeit anbelangt, zeigt sich Stourzh allerdings illusionslos: "Es ist ja nicht so, dass in den vergangenen Jahren zu wenig Wissen produziert worden wäre, aber leider gibt es bei manchen Leuten Wahrnehmungsverweigerungen - da können wir Zeitgeschichtler uns noch so anstrengen."

Kluft deutlich geworden

Ähnlich sieht dies Brigitte Bailer-Galanda, wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes: "Das Gedankenjahr hat die Kluft zwischen den hervorragenden Forschungsergebnissen und deren öffentlicher Rezeption deutlich gemacht." Bei den Veranstaltungen, zu denen sie als Festrednerin geladen war, seien aus ihrer Sicht die Erkenntnisse der Zeitgeschichte nur sehr selektiv an die Öffentlichkeit getragen worden, sodass selbst an aufgeschlossenen Leuten vieles vorbeigegangen sei. Besonders bedauert Bailer-Galanda, dass die Widerstandskämpfer und die kz-Häftlinge auch im Gedankenjahr nicht Teil der kollektiven Erinnerung Österreichs geworden sind.

Eine uneingeschränkt positive Bilanz zieht Hannes Androsch, zwar kein Historiker, aber spiritus rector der Staatsvertragsausstellung "Das neue Österreich" im Wiener Belvedere, die bis 11. Dezember verlängert wurde: "Kein anderes Land gehe so aufrichtig mit seiner Vergangenheit um, hat ein Besucher ins Gästebuch der Ausstellung geschrieben. So ist es. Es ist nichts beschönigt worden und nichts weggelassen worden. Zu hoffen ist, dass ein besseres Verständnis der eigenen Vergangenheit entwickelt wurde, sodass man sich nun der Zukunft zuwenden kann."

Auch die Historiker blicken schon in die Zukunft, wie eine Podiumsdiskussion im Belvedere zeigte. Die Veranstaltung im Rahmen der Wiener Vorlesungen hätte eine Bilanz des Gedankenjahres ziehen sollen, kippte aber sehr bald in ein Gespräch über die Zeit nach 1955. "Es heißt immer, die Sechziger Jahre seien langweilig gewesen. Das stimmt nicht, das war eine ganz spannende Zeit", erklärte etwa Gerald Stourzh. Die Zeit von 1945 bis 1955 scheint also aus wissenschaftlicher Sicht ausreichend erforscht, nun warten die darauf folgenden Jahrzehnte ihrer Aufarbeitung durch die Zeitgeschichte.

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