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Abenteuer moderner Photographie

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Wir sind von einer Flut Photos ■umgeben, wissen aber noch immer nicht, was Photographie ist. Das 19. Jahrhundert hat mit der Erfindung des Bildes aus der Maschine noch nichts Rechtes anzufangen gewußt. Es hat es wie das Bild aus der Hand des Künstlers behandelt. Photographie sollte, wenn sie überhaupt etwas sein sollte, Kunst sein.

Im Zuge eines neuen Realismus handhaben wir seit etwa 30 Jahren die photographische Kamera anders als unsere Väter und Großväter — dafür aber wieder so wie die Erfinder der Photographie. Wir wissen heute instinktiv — oder ein paar tausend Photographen in der Welt wissen es —, daß die Photographie nicht Kunst, sondern etwas anderes ist: ein spezifisches Medium für unseren geistigen Haushalt. Die Photographie ist erfunden worden, damit die Wirklichkeit sich selbst darstellt. In den 126 Jahren der Geschichte der Photographie haben wir von der Wirklichkeit einen anderen Begriff bekommen, als die Rationalisten und Materialisten des 19. Jahrhunderts ihn hatten. Wir geben uns nicht mehr damit zufrieden, daß uns die Kamera den Gegenstand in den drei Dimensionen seiner Äußerlichkeit zeigt, wir wollen ihn in allen Dimensionen seiner ganzen Wirklichkeit sehen, also auch in seinen geistigen Dimensionen. Das setzt voraus, daß Photos eine Transzendenz besitzen, daß im Materiellen des Dargestellten auch Geistiges sichtbar wird.

Keine andere Aufgabe hat die „Weltausstellung der Photographie“, als diese Möglichkeit von Photos, nicht-materielle Phänomene zu veranschaulichen oder uns bewußt zu machen, zu demonstrieren. Diese Ausstellung behauptet nicnt, die besten Photos der Welt zu zeigen. Niemand könnte das, und wer behauptet, daß er die besten Photos in seiner Sammlung besitzt, versteht nichts von Photographie. Die photographische Flut ist zu einem Weltmeer geworden. Ein Fischer, der auf das Meer hinausfährt und einen riesengroßen Fisch fängt, kann sagen, daß er einen riesengroßen Fisch gefangen hat, aber nicht, daß der größte Fisch des Meeres in seinem Netz sich verfing. In der gleichen Situation befindet sich heute der, der eine Weltausstellung der Photographie organisiert. In dieser Ausstellung geht es auch nicht um die besten Photographen der Welt, sondern vielmehr um die spirituelle Möglichkeit der Photographie als solcher. Die „Weltausstellung der Photographie“ soll zeigen, wie weit es die Photographie in den 126 Jahren ihrer Geschichte in ihrer Aussagekraft gebracht hat.

Aber nicht nur das Phänomen der Photographie, auch ihre Funktion hat sich in unserer Auffassung und in unserem Verständnis gewandelt. Von der Produzentenseite her gesehen war sie früher einmal ein rechtschaffenes Gewerbe der Porträ-tisten oder das Hobby ehrgeiziger Photokünstler und Phototechniker; von der Konsumentenseite aus betrachtet diente sie vornehmlich den Bedürfnissen des Familienalbums. Das alles war eine recht private Angelegenheit. Plötzlich aber ist die Photographie ein soziales Kommunikationsmittel und damit eine öffentliche Angelegenheit geworden. Was von der Life-Photographie unserer Zeit in diese Kommunikation nicht hineingelangt, gelangt auch nicht zur Vollendung des photographischen Prozesses. Photos, die nicht publiziert werden, sind keine fertigen Photos, denn die Aussage, die das Bild enthält, will mitgeteilt werden. Die publizierten Photos aber spielen im Haushalt unserer Gedanken, Vorstellungen, Emotionen, in unserem Bewußtsein heute eine ungeheure Rolle.

Daraus ergeben sich viele Probleme, die die Photofans vor dreißig Jahren noch nicht kannten. Die Katholische Akademie Bayerns hat sie erst kürzlich unter der Mitarbeit von Universitäts-Instituten und Praktikern des Fernsehens und der Bildjournalistik auf einer Tagung behandelt. Allmählich begreifen wir, daß es hier um etwas anderes geht als die Klubs und Vereine der Photoamateure bisher im Auge hatten. Innerhalb weniger Monate hat die „Weltausstellung der Photographie“ die Diskussion um diese Dinge in der ganzen westlichen Welt vorwärts getrieben. Sie vermochte es schon durch die Art der Präsentation der Bilder zu tun. Denn das durfte man doch in dieser Ausstellung merken, daß es nicht bloß um 555 Einzelbilder geht. Das Merkwürdige und für viele auch Provozierende dieser Ausstellung besteht in der Verknüpfung dieser Bilder.

Nun sind wir mit der Präsentation von Photos (in Büchern und in Ausstellungen) überhaupt in eine Krise geraten. Solange nur die Photokünstler sich selbst ausstellten, solange sie uns nur zeigten, was sie aus dem Vorhandenen mit Kamera, Entwickler und Photopapier zu machen imstande waren, solange genügte es, daß ihre Klubs oder Vereine ein gutes Photo neben ein anderes gutes Photo hängten und vielleicht noch die technischen Daten darunterschrieben, die dem „Genie des Photographen“ das „Kunstwerk“ ermöglichten. Heute interessieren uns in einer neuen Situation der Photographie nicht die Brennweiten und die Belichtungszeiten und auch nicht die Kunststücke der Photographen, sondern das, was vor der Kamera passierte; heute interessiert uns das Thema, der Gegenstand, die Wirklichkeit.

Die thematische Präsentation aber setzt einen inhaltlichen und optischen Zusammenhang voraus. Photos sind wie einzelne literarische Sätze. Ein einzelner Satz kann sinnvoll sein. Es wäre aber nicht sinnvoll, in einem Artikel oder Essay zusammenhanglose (wenn auch für sich genommen sinnvolle) Sätze zu schreiben. In der „Weltausstellung der Photographie“ wurde eine Syntax der Sprache der Photographie zu entwickeln und auf Grund dieser Syntax eine Ausstellung zu gestalten versucht. In dieser Syntax spielen nicht nur die Gedanken und Vorstellung, die aus den Photos sich anbieten, eine Rolle, sondern darüber hinaus eine Unzahl optischer Momente, die man berücksichtigen muß. Man sollte daher in dieser Ausstellung nicht bloß das einzelne Bild, sondern gleichzeitig immer die ganze Bildgruppe ins Auge fassen.

Auf jeden Fall ist das Wichtigste in einer solchen Ausstellung das Sehen. Sehen ist der eigentliche Trick der modernen Photographie. Was für den Produzenten gilt, gilt aber auch für den Konsumenten der Bilder. Es ist ein grober Irrtum, zu meinen, Photos wären eine moderne biblia pauperum, eine Art Nürnberger Trichter, mit dem den Armen im Geiste durch die Augen das eingeflößt wird, was sie mit den Begriffen nicht zu fassen vermögen. Das Photo ist genauso esoterisch wie das Wort. Uber die drei Dimensionen der Äußerlichkeit hinaus sieht der Mensch nur, was er weiß. Aufgabe spiritueller Photos ist es, unser Bewußtsein zu mobilisieren. Bilder aber, die das fertigbringen, können zu einem optischen Abenteuer für uns werden, und zu diesem Abenteuer lädt die „Weltausstellung der Photographie“ ein.

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