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DER PHOTOGRAPH SIEHT MEHR VOM LEBEN

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Vorbemerkung. Das, was wir hier über die Arbeiten eines bestimmten Photographen sagen, gilt nicht nur für diesen. Wir haben ein Beispiel für viele gewählt, um von etwas Konkretem ausgehen zu können. So kann der Leser nach Belieben, wenn wir von den Aufnahmen des Innsbruckers Wolfgang Pfaundler sprechen, an Hans Hubmann oder Erich Lessing oder Helmut Baar (um hier nur die Namen einiger Oesterreicher “zu nennen) oder irgendeinen anderen Photographen denken, soweit es diesem in erster Linie um die Wiedergabe der Wirklichkeit und um nichts anderes geht. Die Arbeiten Wolf gang Kudrnofskys (um mit dem Beispiel wieder nur inOesterreich zu bleiben) liegen größtenteils auf einer anderen Linie, dienen der Verwirklichung ganz anderer, sehr persönlicher Vorstellungen.

Im Gegensatz zur Kunst, wo jeder Künstler seine Eigenart, seinen persönlichen Stil, seine eigene innere Welt hat, die ihn von jedem anderen unterscheiden, werden sich die Arbeiten der hervorragenden Wirklichkeitsphotographen (was nicht gleichbedeutend ist mit Naturalisten!) immer ähneln. Der Photograph hat keine eigene Welt, die ihn vom anderen unterscheidet. Aber er hat ein scharfes Auge, mit dem er auf unsere Welt blickt.

Kunst ist, wenn sie wirklich Kunst ist, immer ein Ende. Sie ist die letzte Verdichtung der Welt, deren Gesetz und Maß, die verborgen waren, in ihr nun deutlich zutage treten. Eine neue Ordnung, ein neuer Sinnzusammenhang löst die perspektivische Weltsicht unserer Erfahrung ab. Das 'Flüchtige, Transitorische aller Erscheinungen ist gewichen, und was wir im Bilde der Kunst sehen, hat den Charakter des Bleibenden angenommen. Die unruhige, sich ständig verändernde Welt, in der wir leben, ist ruhig geworden und heimgekehrt zu sich selbst. Die Dinge, aus so vergänglichem Stoffe gemacht, sind verwandelt und dauern.

Ganz anders die Ansichtskarten, auf deren Rückseite steht „echte Photographie“ oder „vera fotografia“. In gewisser Hinsicht sind auch sie ein Ende. Sie sind das, was von unseren Reisen geblieben ist, ein Andenken. Ihr Wert liegt nicht in ihnen selbst, sondern in dem, was sie in uns heraufrufen an Assoziationen, an Empfindungen, an Vorstellungen. Sie verweisen uns auf etwas, das außerhalb des Bildes ist: auf die Welt. Und darum sind sie immer zugleich ein Anfang. Sie sind Ausgangspunkt neuer Träume, wie sie vielleicht Ausgangspunkt neuer Reisen sind Die Städte, die sie zeigen, verändern sich, Hochhäuser entstehen bald dort, wo der Photograph stand, und die Ansichten, die sie bringen, verlieren rasch ihre Gültigkeit.

Die Photographien Wdlfgang Pfaundlers, die in den vergangenen Monaten mehrfach in Oesterreich in großen Ausstellungen zu sehen waren und über die wir hier sprechen wollen, stehen weit über dem Niveau von Ansichtskarten. Haben Ansichtskarten oft nur für den einen Wert, der das, was auf ihnen zu sehen ist — und meist sehr undeutlich zu sehen ist — schon aus eigener Anschauung kennt, so vermögen die Photographien Wolfgang Pfaundlers weit mehr zu leisten.

Diese Photographien haben also, im Gegensatz zu den Ansichtskarten, einen Eigenwert. Trotzdem möchte ich sie nicht, damit wir nicht die Begriffe verwirren, als Kunst bezeichnen.

Die Kunst ist etwas Fertiges, Abgeschlossenes. Sie gibt eine gestaltete- Welt. Sie ist ein Ende Die Photographie dagegen ist ein Anfang. Sie sieht die Welt ursprünglVh. wie am ersten Tag. Sie sieht die Welt, ohne dabei zu denken, ohne das Gesehene sofort mit rationalen

Begriffen zu verbinden, wie der Mensch es nur allzuleicht tut.

Sie verwandelt das Flüchtige nicht, sondern sie hält es gerade in seiner Flüchtigkeit fest: die Kinder im Sprung, die Seifenblase im Flug, den einmaligen unwiederholbaren Augenblick, der uns nur allzu leicht entgeht; ,

Die Photographie gibt kein verwandeltes, sondern ein verdeutlichtes Bild der Welt. Die gute Photographie lehrt sehen.

Am Anfang der Philosophie steht das Staunen. Aber nicht das Staunen über das Ausgefallene, Exotische — sondern das Staunen über das Gewohnte, Alltägliche, scheinbar Selbstverständliche. Dinge, die wir schon gar nicht mehr recht wahrnehmen, so vertraut waren sie uns, erscheinen uns plötzlich in einem anderen Licht, sind uns fremd, offenbaren uns ein Wesen, das wir nicht geahnt hatten.

Ein ungewohnter Bildausschnitt, ein eigenartiger Blickwinkel, die große Nähe, mit der uns ein Gegenstand plötzlich konfrontiert wird — das alles sind Ansatzpunkte des Photographen, einen Verfremdungseffekt hervorzubringen. Auf den ersten Blick sind wir gefesselt und glauben, eine Entdeckung zu machen: etwas zu sehen, was wir noch nie gesehen haben. Wir müssen oft dreimal hinschauen, um zu erkennen, daß uns das Dargestellte — ein Gebäude, eine Straße, ein Mensch — sehr wohl bekannt ist. Nur in dieser Sicht haben wir es noch nie gesehen. Zu hastig gingen wir daran vorüber. Zu schnell verflogen die Seifenblasen auf dem Markt, zu schnell war der Sprung der Kinder. Wir sahen die Bewegung, aber der Vorgang ging uns verloren. Die Kamera des Photographen hat ihn bewahrt.

Vor einigen Jahren war in Alpbach, wo 1957 Pfaundlers Photographien gezeigt wurden, eine sehr interessante Schau zusammengestellt worden, die „Subjektive Photographie“ hieß. Der Begriff „Subjektive Photographie“ drückte „formelhaft das persönliche Gestaltungsmoment des Lichtbildners aus“, der versucht, alle „technischen und gestalterischen Möglichkeiten“, die unsere Zeit bietet, auszu?-höpfcn.

Einen ganz anderen Weg geht Wolfgang Der Photograph sieht immer mehr vom Leben. Mit dem Teleobjektiv holt er Fernes heran und belauscht Szenen, die unsere Dazwischenkunft gestört hätte; mit dem Weitwinkelobjektiv ver-

Pfaundler. Eine Ausstellung seiner Arbeiten könnte heißen: „Objektive Photographie“. Immer dominiert das Objekt. Pfaundler will nicht zeigen, was man mit einer Kamera alles leisten kann, sondern er will die Welt zeigen. Er will die Welt nicht zeigen, wie man sie nur durch die Kameralinse sehen kann, sondern möglichst so, wie sie jeder sehen kann, der Augen hat. Wenn freilich die Zeitlupe des Films oder das statische Photo erst das schaffen, wovon wir oft sprechen, aber in Wirklichkeit nie erfassen können: den Augenblick. größert er unser Blickfeld und rückt Dinge aneinander, die uns unübersehbar schienen, wie zum Beispiel eine lange Säulenreihe.

Pfaundler photographiert klar und scharf. Er komponiert die Bilder, während er sie sieht; er versucht, den richtigen Blickpunkt zu bekommen, aber er greift nicht verändernd in die Wirklichkeit ein, während er sie beobachtet. Sein Auge ist das eines Poeten; aber eines Künstlers, der seinen Rohstoff nicht verwandelt, sondern ihn so beläßt und weitergibt, wie er ihn angetroffen hat und wie er von ihm ergriffen wurde: als Rohstoff.

Er hält den schöpferischen Augenblick fest. Er führt ihn nicht fort. Daß ihm dies so oft gelingt, und wir so unmittelbar von seinem Gegenstand ergriffen werden, ist Pfaundler besonders anzurechnen. Denn wir müssen immer bedenken, daß er nicht wie die berühmten Photographen unserer Zeit — Cartier Bresson, Robert Capa, Werner Bischof — für einen Gegenstand gleich einen ganzen Film verschießen kann, sondern mit seinem Material sparsam umgehen muß. Jeder Schnappschuß soll ein.Treff er

Pfaundler begann als Journalist zu photo-graphieren, um für seine Berichte gleich die passenden Bilder zu haben. Das war vor einigen Jahren. Inzwischen hat Pfaundler den Journalismus aufgegeben, und es könnte sein, daß seine Photographien mit schuld sind an diesem Entschluß. Denn bald waren seine Bilder so gut, daß sie sich kaum noch zur Illustrierung eines Artikels eigneten. Sie hatten sich selbständig gemacht. Sie sprachen für sich und duldeten keine weitschweifigen Interpretationen. Sie waren über den Tagesanlaß hinausgewachsen und das geworden, was sie sind: Hinweis auf die Wirklichkeit. Nicht auf die vorübergehende Wirklichkeit eines Tages, auf das Sensationelle und Auffallende, sondern auf das, was man immer und überall sehen kann, wenn man genau hinsieht. Es sind nicht die Photographien eines Journalisten, sondern eines Wahrheitssuchers, eines Forschers. Vom Journalisten zum Forscher! Pfaundler hat eine beispielhafte Entwicklung durchgemacht: durch die redliche Ausübung des Handwerks der Photographie.

Wir sagten: der Photograph ist kein Künstler. In einem aber sind die Photographien Pfaundlers ebenso wie die Kunst unserer Tage typischer Ausdruck der Zeit: in ihrem Streben nach Genauigkeit, nach Präzision, nach unbedingter Wahrheit. Der Künstler wird heute immer mehr zum Forscher, zu einem nüchternen Menschen, der unter Verzicht auf alles „Genialische“ den Gegebenheiten ins Auge blickt und seinen Stil zu verfeinern sucht, um möglichst viel von der Welt in den Griff zu bekommen.

Die Photographien Pfaundlers sind die eines Mannes, der auszog, die Welt zu entdecken; dort, wo sie uns am Vertrautesten ist, im Alltäglichen. Seine Bilder sagen: dies habe ich gesehen; in einigen Städten Europas, im Wiener Prater, in einem Tiroler Bergdorf; bei einer Prozession, auf dem Bauplatz, am Fluß. Diese Bilder fordern auf, selbst näher hinzusehen auf unsere Welt; auf das Kleine und auf das Große. Sie dienen der Schärfung unseres Wahrnehmungsvermögens. Sie wollen nicht, wie die Kunst, uns erschüttern und läutern; sondern uns anleiten, selbst Beobachtungen und Entdeckungen zu machen. Sie wollen uns lehren, achtsam und wach zu sein.

Die Photographien Pfaundlers sind ein Anfang und eine Aufforderung. Die Welt draußen mit neuen Augen zu sehen, das ist jetzt unsere Aufgabe.

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