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Digital In Arbeit

Eine Tür aufreißen

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Es ist eine Welt von Schicksalen, die den Besucher empfängt. Unmittelbar, ohne sich besonders anzukündigen, springt sie vqn Hochglanzphotos, füllt den Raum mit knisternder Intensität: Der Mensch in seiner Differenziertheit, seinen tausendfachen Vef-wirklichungsmöglichkeiten, seiner unendlichen Bedeutsamkeit — genauer, gesagt: Die Frau erzählt hier die große Geschichte des Lebens.

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Es ist eine Welt von Schicksalen, die den Besucher empfängt. Unmittelbar, ohne sich besonders anzukündigen, springt sie vqn Hochglanzphotos, füllt den Raum mit knisternder Intensität: Der Mensch in seiner Differenziertheit, seinen tausendfachen Vef-wirklichungsmöglichkeiten, seiner unendlichen Bedeutsamkeit — genauer, gesagt: Die Frau erzählt hier die große Geschichte des Lebens.

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„Was ist der Mensch?“ hieß die erste Weltausstellung der Photographie, die bereits im Herbst 1964 eröffnet wurde. Das hier, zur Zeit im Münchner Stadtmuseum, ist die zweite dieser Art, doch zeigt sie sich spezialisiert. „Es dürfte kein Thema geben, das für eine Photo ausstellung geeigneter ist als das der Frau“, meint Karl Pawek im Vorwort zu dem umfangreichen, über 500 Seiten fassenden Katalog. So wie schon vor fünf Jahren ist er auch diesmal Initiator der Ausstellung und zusammen mit. dem Magazin „Sterin“ dafür verantwortlich.

Daß wir einem häufig erörterten „optischen Zeitalter“ angehören, überschwemmt von einer ständig ansteigenden Biildierflut, und daher bereits ziemlich abgestumpft gegenüber derartigen Ereignissen, wird in diesem Augenblick unwesentlich. Und es zeigt sich wieder einmal, daß es hier — so wie überall — die einzelnen sind, welche Akzente setzen. Aus der Situation eines bereits zur Selbstverständlichkeit gewordenen Bilderkonsums erhebt sich plötzlich die selbstkritische Frage: Haben wir das Sehen verlernt, oder: haben wir es vielleicht nie gekonnt? Gehen wir vorbei am Nächsten ohne ihm ins Gesicht zu schauen? Getrieben von Verpflichtungen und Terminen, der Aussicht auf Gehaltserhöhung oder einen neuen schnittigen Porsche in der Garage.

Denn hier wird eine Tür aufgerissen. Und es ist gar nicht so sehr das Ungewöhnliche, die Sensation, die hier zum Anhalten zwingt, sondern das Leben wie es sich täglich, stündlich ereignet. Die Erkenntnis vom bedeutungsvollen Geschehen, das sich hier, da, an der nächsten Ecke ereignet, wird mit ungemeiner Deut- ■ lichkeit bewußt.

Es gäbe viele Gründe dafür anzugeben, warum gerade die Frau so bildwirksam ist, ihre Verwandlungs-und Ausdrucksfähigkeit, die Lust am Schmuck und Dekorativen, eine Art freudig gepflegter Exhibitionismus und vielleicht auch ihre augenblicklich etwas problematische Zwischenstellung, die sie innerhalb von Familie und Beruf einnimmt, sind nur einige davon. Die Skala der Darstel-luingsmögliChkeiten ist daher breit. Sie reicht vom Mythos Weib, der sich in der Mutter und der Geliebten, der Verführerin und Verführten, der Hure und der Hexe zeigt bis zur Frau, die sich in den Büros und in den Fabriken, als Feldarbeiterin und Trägerin schwerer Lasten, an der Maschine und am Gewehr zum tragenden Glied einer Gesellschaftsordnung macht. Der Vorwurf, welcher von einer bundesdeutschen Zeitung erhoben wurde, nämlich, daß der erste Faktor auf Kosten des Letzteren ein Übergewicht erhalte, kann hier nicht geteilt werden. Es ist richtig, daß die Frau auch auf beruflichem Sektor mehr aus der Perspektive des „typisch Weiblichen“, wie es sich durch Jahrhunderte in unserem Bewußtsein gebildet hat, betrachtet wird. Wenn jedoch diese Auffassung gegenüber jener, die der modernen Frau auch im Berufsleben dieselben Chancen und Möglichkeiten einräumen möchte wie sie bislang dem Mann vorbehalten waren, dominiert, so schildert sie nur ine auiffenMiickliche Gegebenheit. Was vielleicht in Zukunft sein kann, ist nicht Gegenwart. Darüber -hinaus erscheint -es etwas vordergründig, die Frau vor.allem auf ihren wirtschaftlichen Nutzwert hin zu betrachten. AuCh ist hier nicht nur die Frau des zivilisierten Westens .gemeint. Und die Dritte Welt hat — mit Ausnahme vielleicht von Japan — hier wiederum eine andere Situation zu bieten. Viel eher wäre man berechtigt zu fragen, warum relativ wenig Photographen aus den Ostblockstaaten vertreten sind. Mit etwas Mühe hätte es wohl zu einem besseren Verhältnis kommen müssen. Diskussionen, ob und wieweit Photographie Kunst sei, schießen allerdings ins Leere. Denn hier geht es lediglich darum, die Augen zu öffnen für das, was wir sind und möglicherweise auch für das, was wir sein könnten. Denn vielleicht kann das Bild eines Neugeborenen und einer Sterbenden, einer Hure und einer Nonne, einer Pistolensdhützin, einer Schwangeren und eines kleinen napalmverbrannten Mädchens mehr aussagen als tausend Worte! Photographie als Kunst? Nein! Aber als eine neue Art des Sehens! '

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