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Kein Urlaut onne Kamera

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Ueber ganz Mitteleuropa verstreut leben auch heute noch einige Halbwilde, die auf den ersten Blick zwar wie normale zivilisierte Menschen aussehen, aber bei ihrer Urlaubsreise keinen Photoapparat mitnehmen und sich solcherart eindeutig als auf einer niedrigeren Kulturstufe stehend erweisen. Daß man ihnen den Grenzübertritt überhaupt gestattet, ist wohl nur der demokratischen Toleranz und der Hilfsbereitschaft gegenüber minderentwickelten Völkern und Einzelpersonen zuzuschreiben, die fast ebenso ein Merkmal unserer Zeit ist wie die Kamera.

Wer hingegen seinen Urlaub wirklich genießen und nicht ziel-, objekt- und objektivlos in den Tag hineinleben will, der nimmt natürlich die Kamera mit, sei es eine schlichte Box, sei es ein Meisterwerk der optischen Industrie mit Weitwinkelobjektiv, Schnellaufzug, eingebautem Belichtungsmesser • und zwangssynchronisiertem Geigerzähler.

Wer sich noch besser im Gleichschritt mit seiner Zeit befindet, der nimmt natürlich zwei Apparate mit, etwa eine Filmkamera für Schwarzweißfilme und einen Photoapparat für Farbaufnahmen. Das ist keine gewaltige Belastung des Gepäcks und man hat wenigstens die Gewißheit, daß dieser Urlaub unvergeßlich bleiben wird. Denn Erinnerungen verblassen, dauernd aber ist die Leuchtkraft der Diapositive. Und wenn man einmal abends Gäste hat, will man nicht nur Brötchen und Kognak reichen können, sondern auch Unterhaltendes und Erlebtes bieten — und was eignet sich dafür besser als die Großglocknerstraße mit eigenem Wagen im Vordergrund, der Petersplatz mit eigener Frau im Vordergrund und der Escorial mit eigenem Hund im Vordergrund?

Gewiß, die Kamera hat einen Nachteil: man ist damit sofort als Fremder zu erkennen, während ja der allgemeine Ehrgeiz dahingeht, unerkannt wie weiland Harun al Raschid durch die exotischesten Menschenansammlungen zu schreiten. Wer aber eine Leica, einen Belichtungsmesser und ein Teleobjektiv um den Hals hängen hat, von dem nehmen die Tunesier in der Kegel doch an, daß er kein arabischer Scheich ist. Aber wer einmal die bittere Erkenntnis gesammelt hat, daß die Bauernfänger und Geldwechselbetrüger von Neapel jeden Ausländer auf Anhieb in seiner,'Müttersprache anreden„ wie Sehr“ei sich aucTi'zü, tarnen gesucht haben mag, der verzichtet resignierend auf die Unkenntlichkeit und hängt frohen Sinns die Kamera samt Zubehör um. Mögen die Einheimischen, die es ja ohnehin schon wissen, nun ganz deutlich sehen, daß hier ein Fremder geht — aber mögen sie ihn zugleich auch gebührend bestaunen und bewundern. Denn er ist kein gemeiner Strand-Schnappschuß-Urlauber, sondern ein Mensch mit 3,5-cm-Weitwinkeloptik und Orangefilter — eine Synthese aus feinfühligem Künstler und scharfsinnigem Techniker.

So gehen sie also durch den Urlaub, den Finger immer am Auslöseknopf. Das Hamlet-Wort „Bereit sein ist alles“ ist ihr Motto. Ihr Blick sucht das Motiv, ihr Schritt den außergewöhnlichen Standpunkt, die Linke fingert am Belichtungsmesser, der Zeigefinger der Rechten ruht am Auslöser.

Die Weltanschauung, die der Tätigkeit dieser Urlaubsphotographen zugrundeliegt, ist unterschiedlich. Da gibt es eine immer geringere Minderheit von Denkmalknipsern, die jedes von Baedeker besternte Bauwerk treulich abkonterfeit. Dann gibt es die Schar der Familienfeti-schisten, die sich und ihre Begleitung als einzig würdige Objekte ihrer Objektive' betrachten und die Landschaft nur insofern gelten lassen, als sie Lokalkolorit abgibt. Für diese Photographen ist ein Wegweiser „Rom 20 km“ das gleiche wie das Kolosseum, denn dieses wie jener tun schließlich nur kund: Wir waren in Rom.

Zuletzt gibt es die immer zahlreicher werdenden Motivkünstler. Sie lieben Agaven im Vordergrund, die Rundbogen eines Kreuzganges versetzen sie in Begeisterung und sie sind bereit, die akrobatischesten Verrenkungen zu versuchen, wenn sie dadurch gleichzeitig eine fleckige Katze, eine Chiantiflasche, zwei Kakteen und den Vesuv auf das Bild bekommen.

Aber wie sehr sie sich voneinander unterscheiden mögen, mit welch gönnerhaftem Mitleid die Schlitzverschlossenen auf jene blicken mögen, deren weiteste Objektivöffnung 1:5,6 ist — sie bilden doch eine einzige große einheitliche Familie, die sich,nicht genug tun kann in ihrer fassungslosen Verwunderung darüber, daß es immer noch in Europa Halbwilde gibt, die ohne Kamera auf . Urlaub fahren, Urmenschen, die ihr kostbares Geld völlig sinnlos für etwas vergeuden, von dem sie überhaupt nichts haben, als höchstens drei Wochen lang einen dunkleren Teint.

Man müßte diese aussterbenden Kuriosa geradezu photographieren.

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