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DAS FREMDE MÄDCHEN

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Hugo von Hofmannsthal erdachte sich einstmals für mich eine Pantomime: „Das fremde Mädchen.“ Die Musik dazu komponierte Hannes Ruch, und ich gab den Gestalten dieser Dichtung Leben auf der Bühne und mimte und tanzte das „fremde Mädchen“ selbst. Die Handlung dieser Pantomime war eigentlich sehr einfach: Da gab es eine kleine Gesellschaft dunkler Existenzen — man nennt sie für gewöhnlich „Verbrechertypen“ — und dann „das fremde Mädchen“: ein ergreifend kindhaftes, zartes Geschöpf, das von den Verbrechertypen dazu mißbraucht wurde, die Blicke der Empfindsamen auf sich zu lenken, um ihnen dann leichter das Geld aus der Tasche ziehen zu können. Wieso dieses Mädchen in die Hand dieser gefährlichen Bettler gekommen war, das war nicht näher erklärt, es war da und die Gefangene dieser gänzlich herzverdorrten Elendsarmen.

Die Gegenspieler zu diesen nur höchst vorsichtig aus ihren Verstecken auftauchenden dunklen Gestalten waren in der Welt der Reichen zu finden, dort, wo im eleganten Restaurant das Mädchen seine Blumen verkaufen mußte, und wo es auch den reichen jungen Mann und dessen Geliebte gab. Dieser junge Mann, auserkoren als nächstes Opfer der gestrandeten Existenzen, ward ergriffen von der seltenen Anmut und dem Kindhaften des Mädchens, und, alle Vorsicht vergessend, folgte er diesem Mädchen in die versteckten Höhlen, wo es vor ihm tanzte und sich so in sein Fühlen und Denken eingrub, daß es ihm alles für ihn bisher Bedeutende verstellte.

Das wirkliche Opfer aber wurde „das fremde Mädchen“, das mit Aufbietung seiner letzten Kräfte den von den Elenden zur Seite gebrachten jungen Mann suchte und fand, ihn von seinen Fesseln befreite und, von seinen Armen liebend umschlossen, an seinem Herzen endlich ihr gequältes Herz zur ewigen Ruhe legen durfte.

Diese Pantomime erregte das Interesse einer ersten schwedischen Filmgesellschaft, und so wurde der Rahmen von vier Bühnenbildern für den Film gesprengt und erweitert zu vielerlei Situationen vor der Filmkamera, und von der pittoresken Häuserkulisse des vierten Bühnenbildes blieb nichts, sondern trat die freie Luft und felsige Umgebung von Stockholm. — Gösta Eckmann mimte die Rolle des reichen jungen Mannes und war erstaunlich schnell zu Hause in der Welt der musikalischen Gebärde, der Sprache ohne Wort.

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Von beiden Aufführ-ingen, sowohl der am Theater gespielten Pantomime als der für den Film umgeänderten Komödie ohne Wort, gibt es Photographien. Das Sonderbare - und mich zum Nachdenken zwingende — ist, daß die Photographien der im Theater aufgeführten Pantomime in mir gar keine Probleme aufrufen. Dort war ja alles, was getan werden sollte, besser oder schlechter im Sinne eines Kunstwerkes schon erfüllt worden: der Frack des jungen Mannes war gar nicht nur ein Frack, sondern mehr ein Überfrack, schon ein Kostüm; alles hatte sein künstlerisches Maß, und die vier Bilder der Pantomime waren eigentlich gleich den vier Sätzen eines Streichquartetts. Aber hier, vor den Photographien des Films, wurde ich irritiert, stolperte über das allzu direkte, ins höhere Sein der Kunst nicht Aufgelöste. Aber gerade hier wurde ich vom Spiel wieder zurückgeführt zum wirklichen Leben, so daß ich mich auf einmal fragen mußte: „Ja, woher kommt denn so ein fremdes Mädchen? ... und wie würde es sich denn wirkend in der Wirklichkeit benehmen? ... und gibt es denn so ein fremdes Mädchen in der Wirklichkeit überhaupt?“ ... Und auf einmal glaubte ich zu verstehen, daß es wahrhaft und ganz in der Wirklichkeit nur das fremde Mädchen gibt, während wir, andere Gestalten des wirklichen Lebens, wir, schöne Fräcke und abgeschabte Elendsröcke, zwar höchst wirklich, aber nicht ganz wahrhaft das spiegeln, was hinter dem Schein der Erscheinung ist... weil nur das wahr wird in der großen Angst und in der Hingabe der Liebe.

Und das fremde Mädchen? Es steht in der Mitte dieser beiden Lebensbereiche der Fräcke und Elendsröcke, aber es spiegelt nicht mehr seine eigene Angst... es kennt nur mehr die Angst um den anderen, erzitternd in qualvoller Sorge um ihn, den Geliebten, für ihn sterbend.

Ich sehe diese Photographien vor mir, und warum muß ich über sie sprechen, ab ob es Gestalten des wirklichen Lebens wären? Gestalten, von denen man in der Zeitung lesen könnte, daß ihre Lasterhöhlen entdeckt und daß das Opfer, der reiche junge Mann, mit dem Leben davongekommen ist, aber an den Folgen der Erfrierungen zu tragen haben wird. Und das fremde Mädchen? — ja, aber das bin ich doch selbst... nein, auch das stimmt nicht... das war ich einstmals. Und ich bin schon ganz verwirrt, bin schon ähnlich der „klugen Else“ im Märchen, die, mit Glöckchen behangen, im Dorf sich durchklingelnd fragt: „Bin ich's oder bin ich's nicht?“ Und wenn ich nicht so fasziniert wäre von diesem Aus- und Ineinanderfallen von Spiel und Wirklichkeit, würde ich es jetzt lachend aufgeben, weiterzu-fragen. Aber ich muß dabei bleiben, darf nicht ausweichen, denn es ist die Photographie selbst, die mich zwingt, Stellung zu nehmen, zu ihr, der Photographie, zu der ich ein eher schlechtes Verhältnis habe, und manchmal wünsche ich, sie wäre gar nicht da, und es gäbe nur die Hand des Zeichners, dessen Zeichnung wegdeutet von uns selbst und hinweist auf etwas, das man ist, und auch mehr ist als man selbst.

So ist es die Photographie, die ich eigentlich nicht mag, aber die mich gerade jetzt»'daran erinnert, -daß ich ja zu den entzücktesten Zuschauern des Stummfilms, der bewegten Photographie, gehörte und daß durch diesen Stummfilm mein Schauen — Leben erschaute, wo ich es früher nicht gesehen hatte. So sah ich plötzlich in einem Stummfilm die Scfoiffsplanken, an denen ein Ochse emporgezogen wurde. Diese Schiffsplanken, sie waren auf einmal so bedeutungsvoll da, d a für alle Schiffsplanken, an denen jemals Menschen in Not sich angeklammert hatten. Und gar erst das Gesicht des Darstellers im Film, in seiner Überdeutlichkeit, nackt, faszinierend durch ein Leben, das bereits Nachleben war. Ja, man wurde wie ein Kind, das dem Märchen ausgeliefert ist, ein glückliches Kind von Charlie Chaplin, und war zugleich von Grauen erfaßt in der Vorstellung, daß es eigentlich keine Ruhe der Toten mehr gibt, da ein geliebtes Wesen da oben auf der Leinwand uns Leben vortäuscht, während es bereits tot unter der Erde liegt.

Was war geschehen durch die bewegte Photographie, daß es mich so ergriff, so anging? Für die Darsteller war es jedenfalls zu einein Durchbruch festgefügter Zustände geworden, denn die früher von der Teilnahme unberechtigter Zuschauer bewahrte Theaterprobe, ihre Exklusivität, war durch den Film aufgehoben; die filmmäßig geschminkten und kostümierten Filmdarsteller, sie mußten hinaus in die freie Luft, in Wald, Wiese und Straße, und da, angestaunt von vielen Müßiggängern, ihre Proben, ihre Aufnahmen abhalten. Welche Auflockerung früherer Zustände I

Immer neue Fragen stehen auf, aber eine Frage wird immer dringlicher für mich: Was will eigentlich das fremde Mädchen von uns? ... und wie kam Hofmannsthal zu dieser Gestalt? ... Sah er in ihr einen Mittler verschiedener Lebensbereiche? Kaum, sie war wahrscheinlich für ihn, wie für mich, eine der herausgehobenen Gestalten, eine der Blüten der Dichtung, die man, an ihrem Duft sich ergötzend, bricht. Und wahrscheinlich auch verblieb sie für ihn im Reich der Dichtung, während sie für mich durch die bewegte Photographie des Films noch einmal in die Wirklichkeit zurückkehrte und hier mich zu konfusen Fragen erregt... und wie eine Mahnung, die richtige Deutung zu finden, mich anruft.

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Aber was für eine Deutung denn? Vielleicht die: nicht die Augen zu schließen, sich zu stellen dem Neuen und in ihm, dem Neuen, Uraltes, immer schon Dagewesenes zu sehen — das immer dann uns an sein Dasein erinnern wird, wenn wir allzu behaglich auf trockenem Boden uns sicher fühlen, um dann plötzlich erschreckt durch das, was durch die Risse des Bodens zu uns dringt, den Boden unter uns wanken fühlen. Und dde einen dann besinnungslos dem Boden nachstürzen, während andere allzu schnell sich auf sicheren Grund retten wollen, indem sie wieder in ihre Einbildungen sich einmauern und abgrenzen und damit den Weg versperren dem, was, von weit her kommend, zu uns will und uns sucht, und das ich weiterhin, weil ich's noch nicht besser veiß, nennen will: „Das fremde Mädchen.“

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