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Der schöne Schmerz der Nostalgie

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1974 ad acta. All die Photos vom Krieg auf Zypern ins Archiv. Tausendmal Nixon in die Ablage. Arafat vor der UNO unter A. Auch was 1975 geschieht, wird millionenfach im Blitzlicht erstarren. Bewegte Bilder, stehende Bilder — wir werden optisch teilhaben.

Aber die Magie der Bilder ist verbraucht. Die Augen sind abgestumpft von Photos. Chefredakteure, die vor fünfzehn Jahren noch predigten „Ein Photo sagt mehr als zehntausend Worte”, schieben heute gähnend die Photos zur Seite und nehmen eine Karikatur für Seite eins. Nach Bergen optischer Makulatur, bleiben die Augen nirgends mehr hängen.

Und wenn, dann an alten, an uralten Photos. Daher der Impuls, einen Band mit dem Titel „Andrė Kertėsz — 60 Jahre Photographie 1912 bis 1972” (Hanns-Reich-Verlag, Düsseldorf) überhaupt aufzuschlagen. Denn dieser Name ist ja hierzulande kaum bekannt. Gleichgültig, wo man das Buch aber aufschlägt — es ist der Schritt in einen photographischen Kosmos. 60 Jahre unseres Jahrhunderts — gesehen durch ein Temperament. Auf den ersten Blick, ohne auf Jahreszahlen und Sujets zu achten, könnte man Kertėsz für einen Epigonen vieler Großer von Feininger bis Capa halten. Aber neben Kertėsz sind die Großen der modernen Photographie Epigonen. Denn der „Vater der ehrlichen Photographie” wurde 1894 in Budapest geboren und nahm mit 18 Jahren die Kamera in die Hand — und brach mit allen Traditionen.

1974 war kein friedliches Jahr, 1975 wird wohil auch kein friedliches. Nostalgie kann es doch nicht sein, was uns an den Photos, die Andrė Kertėsz im Ersten Weltkrieg machte, fasziniert. Er war zwanzig Jahre, als der Erste Weltkrieg aus- brach — und mit 21 Jahren bereits fast ein Robert Capa des Ersten Weltkrieges. Wie Capas berühmte Aufnahmen von der Landung in der Normandie: Das meiste verloren, das wenige Erhaltene legendär. 24 Jahre liegen zwischen dem 1915 von Kertėsz photographierten „langen Marsch an die Front”, in Polen, und den geschlagenen Soldaten der spanischen republikanischen Armee, einem Marsch der Statuen in die französischen Internierungslager, 1939 mit der Hundertstelsekunde eingefroren für alle Zeiten von Robert Capa. Der Blick für das Detail, das das Ganze sichtbar macht, verbindet die beiden Großen der Kamera, Capa, der 1954 in Vietnam von einer Mine zerrissen wurde, und den um elf Jahre älteren Kertėsz, der noch am Leben ist und dem Vernehmen nach noch immer photographiert.

Als er mit 22 Jahren gegen alle damaligen kompositorischen Regeln auf den Auslöser drückte, konnte er kaum ahnen, daß die Sehnsucht der Briefe schreibenden Soldaten 60 Jahre später, an der Wende von 1974 auf 1975, die Kluft zwischen Geschichte . und Gegenwart, einst ■und jetzt überspringen würde. Es ist die Sehnsucht, das Heimweh aller Soldaten in allen Kriegen der Welt. Jahre später photographierte er den „Abschied des Roten Husaren” von Frau und Kind, deren Gesichtem man blitzartig abliest, daß man nicht mehr das Jahr 1914 schreibt.

Der Krieg bei Kertėsz, der Krieg bei Capa: Würden wir heute von einem friedlichen Jahr 1974 in ein friedliches Jahr 1975 überwechseln, ihre Bilder vom Krieg wären ein Mittel gegen die Nostalgie. So aber ist ein Frieden damals, kein Frieden heute. Was Kertėsz sonst noch photographiert hat zwischen 1912 und heute: Hier heißt der Schlüssel zum Verständnis der unmittelbaren Wirkung dieser Photos auf uns heute in vielen Fällen sehr wohl Nostalgie. Aber was ist das — Nostalgie?

Wenn Nostalgie die Sehnsucht ist, das Unüberwindliche zwischen den Zeiten zu durchbrechen, gibt ihr jedes Bild von Andrė Kertėsz neue Nahrung, denn das in diesen Photos erstarrte versunkene Jetzt und Hier ist von einer in manchen Aufnahmen gespenstischen Präsenz.

Kertėsz nahm nicht nur die meisten von der Photographie auf dem Weg der Emanzipation von der kopierten Malerei zur eigenständigen Kunst entwickelten Stilmittel vorweg. Er hat auch eine lange Reihe von Menschen photographiert, die an der Veränderung unserer Welt aktiv beteiligt waren. Man muß sich immer wieder vergegenwärtigen: Zwischen den alten und den uralten Aufnahmen von Andrė Kertėsz liegen Jahrzehnte. Fast zwei Jahrzehnte zwischen seinen Kriegsphotos und seinem „Chagall mit Familie”, mehr als ein halbes Jahrhundert zwischen dem Akkordeonspieler in Esztergom und dem Negersänger in New York.

Das Besondere daran ist, daß diese 60 Jahre Wirklichkeit, gesehen durch ein Temperament, zugleich die ganze Spanne photographischer Rückerinnerung der Menschheit umfassen — die ältesten Photos der Welt sind ja nur um wenige Jahrzehnte älter als die ältesten Photos von Kertėsz. Kein anderer einzelner Photograph macht uns so bewußt, in welchem Ausmaß die Photographie die kollektive wie die individuelle Erinnerungsweise der Menschheit umgewälzt hat.

Wirklichkeit wird zur Statue, die nur noch des Kusses zu harren scheint, um ins Leben zurūckzukėh- ren. Erinnerung vermag nichts mehr zu verändern, zu überhöhen, zu idealisieren, zu verzerren. Die „Nostalgie” vergangener Epochen, ihre Sehnsucht nach noch vergangeneren, brachte neue . kulturelle Impulse, neue Stile hervor. Dem Wunsch, die Antike zu kopieren, entsprang die Renaissance. Sollte unserer Sehnsucht nach den goldenen zwanziger Jahren der Wunsch zur Rüokkehr in das Gewesene durch Rekonstruktion des Gewesenen entspringen, brächte Nostalgie nur Filmkulisse hervor.

Mit der Erfindung der photographischen Emulsion und der tönekonservierenden Wachswalze hat sich die Menschheit zu einem ewigen Vorwärtsschreiten verurteilt. Keiner macht uns das so schön, so ästhetisch und brutal klar wie Andrė Kertėsz. Der Schmerz, der von dieser Erkenntnis ausgeht, heißt — heute — Nostalgie.

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