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Rasch „im Bilde sein“

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Ist das Wort am Ende? Verliert es, als geschriebene oder gedruckte Manifestation unseres Denkens, langsam an Bedeutung? Sind wir im Zeitalter eines universellen Weltbildes und einer weitgehenden Beherrschung der Naturkräfte an einem entscheidenden Wendepunkt unserer Ausdrucksformen angelangt?

Diese Fragen, denen keineswegs nur philosophische, sondern stärkste und aktuellste praktische Bedeutung zukommt, sind in letzter Zeit wiederholt gestellt worden und verlangen eine intensive Beschäftigung. Es genügt, auf das bunte Bild der Zeitungskioske auf den Bahnsteigen und an den Straßenecken hinzuweisen, um die große Bedeutung, die heute dem Bild zukommt, zu demonstrieren. Niemand, auch nicht wer vermöge seiner Geisteshaltung oder seiner Beschäftigung über den Dingen zu stehen vermeint, vermag sich der eigenartigen und starken Faszination zu entziehen, die von den bunten und jede Woche erneut in Millionenauflagen gelieferten Titelblättern der „Illustrierten" ausgeht. Bei dieser Bezauberung durch stark vergrößerte Photos, die an sich zu einem sehr großen Teil völlig belanglosen Inhalts sind, bleibt es auch, obwohl der einzelne Leser es immer wieder erlebt, daß ihn der Inhalt eines solchen Heftes kaum länger als eine Viertelstunde wirklich in Anspruch nehmen kann.

Vergleicht man diese „Illustrierte“ unserer Tage mit illustrierten Zeitschriften der Jahrhundertwende und auch noch der Zeit zwischen den beiden großen Kriegen, so wird man auf den ersten Blick feststellen können, wie sehr auch hier noch das Wort, der eigentliche Text und Lesestoff hinter dem Bilde zurückgetreten ist. Es hat fast den Anschein, als ob der moderne Mensch der Gutenbergi- schen Erfindung,’ die Jahrhunderte hindurch als einzige Vermittlerin seiner gesamten geistigen Tätigkeit eine beherrschende Rolle spielte, überdrüssig geworden sei. Diese Vermutung findet eine gewisse Bestätigung in der Tatsache, daß nicht nur das photographierte Bild, also die heute so sehr geschätzte „Reportage“, sondern auch das gezeichnete Bild wieder stark in den Vordergrund getreten ist. Die vielen, oft ungemein stark vereinfachten Bildstreifen und streifenähnlichen Darstellungen, die heute in den Zeitschriften und Zeitungen aller Art immer mehr Platz einnehmen, machen vielfach den Eindruck einer gewissen Primitivität, was sich mit der Tatsache, daß das Bild weit älter ist als der Buchstabe und daher auch die primitivere Ausdrucksform darstellt, durchaus deckt.

Es kann eben kein Zufall sein, daß der sogenannte „comic strip“, der immerhin auch bereits 60 Jahre alt ist (kurz vor der Jahrhundertwende erschienen in amerikanischen Zeitungen die ersten humoristischen Bildstreifen dieser Art), unaufhaltsam vordringt. In den USA werden Monat für Monat 80 Millionen Exemplare der sogenannten „comic books“ verkauft, die nichts weiter enthalten als 16 bis 160 Seiten voll der verschiedensten Bildergeschichten und dazu keine einzige Zeile T ext.

Tn langen und eingehenden Debatten und in vielen schriftlichen Auseinandersetzungen haben sich in den letzten Jahren erfahrene

Pädagogen und Publizisten mit dem Problem dieser Bilderstreifen befaßt. Sie haben alles, was gegen diesen „Rückfall in die Primitivität“ spricht, ins Treffen geführt, sie haben die Lehrer und die Eltern aufgerufen und den oft gar nicht mehr komischen „comic strips“ einen ebenso erbitterten Kampf angesagt wie dem Schundroman und den Gangsterheften. All das hat dem weiteren Vordringen der Bildstreifen leider nicht Abbruch tun können. Im Gegenteil: auch die angesehensten, zurückhaltendsten Zeitungen und Zeitschriften haben sich, wenn auch vielfach in etwas modifizierter Form, dem Bildstreifen zugewandt und ihn damit doch noch salonfähig gemacht. Man hat auf die „noblen Ahnen“ der Bildgeschichten hingewiesen und dabei unter anderem auf Wilhelm Busch und vor allem auf seinen „Max und Moritz“ angespielt. Man hat auch versucht, die ganze Sache ins Positive abzubiegen und aus der starken Anteilnahme sonst leseunlustiger Kreise an dieser Art der Darstellung Nutzen zu ziehen. In Schweden zum Beispiel haben die Schulbehörden natur- und weltkundliche Anschauungstafeln im Stil der „comic strips“ eingeführt, und in England hat man eine Bilderbibel geschaffen, die von kirchlichen Stellen gefördert und kontrolliert wurde. Sie ist übrigens vor einem Jahr ir einem angesehenen katholischen Verlag

Deutschlands mit kirchlicher Druckerlaubnis erschienen und von einer seriösen Familienzeitschrift in Fortsetzungen publiziert worden. All das deutet darauf hin, daß man sich der Tragweite dieser Hinwendung zum Bild durchaus bewußt ist und sie keineswegs aus dem Auge verlieren oder der Kontrolle entgleiten lassen möchte.

Die allgemeine Tendenz, die sich in den Strips bereits ankündigt und in einer bemerkenswerten Wandlung des Inhaltes vieler Illustrierten noch deutlicher zum Ausdruck kommt, scheint eben dahin zu gehen, daß man mit wenigen Blicken übersehen möchte, was einst auf vielen Seiten „langschweifig“ breit ausgemalt erzählt wurde. In immer stärkerem Maße gehen nämlich in jüngster Zeit die für die breite Masse bestimmten Wochenzeitungen und Halbmonatszeitschriften dazu über, photographierte Bildgeschichten zu bringen, deren gesamter Text aus einigen Zeilen Bildunterschrift besteht, der vielfach auch schon durch einkopierte und stark verein-’ fachte Dialoge ersetzt wird. Maßgeblich für diesen Entschluß war wohl die Absicht, dem Film, dem immer noch größten Bezauberer d er Massen, möglichst nahe zu kommen. An die Stelle des Erzählers, der sonst seinen Roman oder seine Novelle an das Publikum herantragen würde, ist damit der Textbuchautor getreten, der nur noch eine Idee und einige knappe Dialoge liefert, und an die Stelle des’ Illustrators der Photograph, der mit Hilfe von Schauspielern einen solchen „stehenden Film“ der Reihe nach photographiert. Die Filmnähe dieser neuartigen Romane, nicht zuletzt aber wohl auch die Möglichkeit, das, was „geschieht", in wenigen Augenblicken zu erfassen und damit ebensoviel zu wissen wie sonst erst nach der Lektüre vieler Buch- oder mehrerer Zeitschriftenseiten, verschafften dieser neuen „Literaturgattung“ wohl jene große Anhängerschaft, die solche Zeitschriften zu ihren fast unwahrscheinlichen Erfolgen führten. Eine einzige französische Wochenzeitschrift, deren Seiten zu einem sehr wesent lichen Teil von solchen „Bildstories“ eingenommen werden, setzt jede Woche 1,6 Millionen Exemplare ab und versorgt damit mindestens fünf bis sechs Millionen Leser mit offenbar hinreichender Literatur für sieben Tage.

Von entscheidender Bedeutung für eine künftige Entwicklung aber wird diese Tatsache, wenn wir sie im Zusammenhang mit der Entwicklung des Fernsehens betrachten, das ja ebenfalls, wenn auch auf einem ganz anderen Gebiet, das Bild immer stärker in unseren Alltag hineinstellt. Es ist wohl so, wie kürzlich ein deutscher Publizist ausführte, daß die drahtlose Uebermittlung von Zeichen die wichtigste Erfindung seit Gutenberg darstellt und in absehbarer Zeit vielleicht überhaupt an die Stelle des gedruckten Wortes treten wird. Während heute der Streit noch darum geht, ob das Auftauchen des Fernsehgerätes im privaten Heim die Familie vollends zerstört oder aber einen so wesentlichen Faktor unserer Zivilisation darstellt, daß man es nicht ablehnen kann, entwickelt sich die technische Seite der Angelegenheit unaufhaltsam und mit steigernder Geschwindigkeit weiter. Freilich, schon der Rundfunk hat es bewiesen: auch wenn einmal in jedem Haushalt das Fernsehgerät zur Selbstverständlichkeit geworden sein wird, brauchen die Zeitung und das Buch deswegen noch nicht gestorben zu sein. Der Umstand, daß im Fernsehgerät das, was anderswo geschieht oder aber eben gesendet wird, von der ganzen Familie gemeinsam betrachtet werden kann, muß sich nicht unbedingt als Vorteil aus wirken. Vielleicht wird sogar gerade in diesem Umstand der Keim für eine Entwicklung stecken, der vom Bild weg und wieder zum Wort führt. Zum Wort, das nicht immer so leicht zugänglich und so rasch verständlich ist wie das Bild, das aber in seiner Subtilität, seiner Ausdruckskraft und seiner Vielfalt dem Produkt unserer geistigen Ueberlegungen doch am angemessensten bleibt.

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