Einer, der kaum eine Ruhepause kannte

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Vor einigen Jahren besuchten wir Erich Lessing in seinem Haus in Wien-Dornbach. Zum vereinbarten Termin war er, das österreichische Mitglied der legendären Fotoagentur Magnum, noch nicht da. Also ließ uns seine Frau im Garten Platz nehmen. Wir sahen uns um: der Rasen wenige Zentimeter hoch und dicht im Wuchs - very british. Und das Haus ganz amerikanisch: ein langgestreckter Flachbau, ein Bungalow. Das Ehepaar Lessing war in der Welt herumgekommen, hatte auch in Kalifornien gelebt. Da kam er, eiligen Schritts! Als Erstes fiel sein großer, imposanter Kopf auf. Er entschuldigte sich für die Verspätung. Die viele Arbeit! Dabei ging Lessing schon damals auf die 90 zu. Ruhepausen scheint Lessing in seinem Leben nie gehabt zu haben. Sein Vater stirbt früh, 1933; seine Mutter und seine Großmutter, beide Jüdinnen, kommen im Konzentrationslager um. Mit 16 Jahren flieht Lessing nach Palästina. 1947 kehrt er in seine Heimatstadt Wien zurück. Dann, 1956, ist er zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Nämlich in Budapest, wo er mit seiner Kamera den Volksaufstand festhält. Er drückt sich in Hauseingänge, um von keiner Kugel getroffen zu werden. Ein Panzer, zerstörte Häuser, Leichen in den Straßen - mit diesen Fotos wird Lessing bekannt. Die Welt lag in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern, doch für Fotografen war es eine herrliche Zeit, denn die Menschen waren hungrig auf Bilder. Es kam ein ganz neuer Beruf auf, der des Fotoreporters; es war auch die Blütezeit von Life, Look, Vu und anderen Magazinen, die auf Bildstrecken setzten. Lessing erzählte uns von Arbeitsbedingungen, von denen heutige Fotoreporter nur träumen können. "Einmal fragte mich der Chefredakteur von Quick, ob ich nicht eine Fotogeschichte über Spanien machen wollte. Natürlich wollte ich, das Franco-Spanien interessierte mich. Gut, ich solle zur Kassa gehen und mir 3000 DM auszahlen lassen. Und nach zwei Monaten zurückkehren." Lessings Bildband "Die Odyssee" verkaufte sich 80.000 Mal, mit den Tantiemen baute er sich das Haus in Wien. (Zum Vergleich: Heute zählen schon 3000 verkaufte Exemplare als Erfolg.) Im Alter zog es Lessing nicht mehr zu den sozialen Brennpunkten der Welt, sondern in die Museen, um deren Kunstwerke abzulichten. Die Leica tauschte er gegen eine Großbildkamera. Vor allem fuhr er immer wieder nach Paris, ins Louvre -sein "Kunstund Kulturarchiv" umfasst heute mehr als 40.000 Aufnahmen. Am 29. August ist Lessing 95-jährig in Wien verstorben.

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