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Kampf und Maskenzwang

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Vor einigen Wochen vollendete die englische Schriftstellerin Doris Lessing das 65. Lebensjahr, und beinahe als Geschenk aus diesem Anlaß kam für ihre große Lesergemeinde knapp vorher der letzte Teil des fünfbändigen Romanwerkes, „Kinder der Gewalt", in deutscher Übertragung heraus, fünfzehn Jahre nach der Originalausgabe. „Dies Buch ist", schreibt Doris Lessing als

„Anmerkung" am Ende der 2700 Seiten ihrer Pentalogie, „was die Deutschen einen Büdungsroman nennen. Diese Romangattung war eine Zeitlang aus der Mode, was nicht bedeutet, daß an ihr etwas auszusetzen wäre." Echt Lessing: Gegen Moden jeder Art kämpft die Autorin seit ihrer Jugend, und die fünf Bände ihres Hauptwerkes, an dem sie (unterbrochen von anderen Arbeiten) fast zwei Jahrzehnte geschrieben hat, sind die episodenreiche Schilderung eines solchen Widerstandes.

„Es ist buchstäblich niemandem mehr möglich, irgendein fiktives Buch anders als mit einem halben Blick auf des Leben des Autors zu lesen." Harte Replik im Abschlußband „Die viertorige Stadt" gegen die simpel überdeutliche Deutung der vorangegangenen vier Teile durch die Literaturkritik. Verlockend freilich, aber ungenügend: Die Rückschau der Lessing auf fünfzig Lebensjahre (übrigens mit einer recht pessimistischen Vorschau in der Art von Science-fiction endend) ergibt keine Autobiographie, wiewohl Lebenserfahrungen der Erzählerin mit sich und der Umwelt zusammengefaßt werden.

Band eins heißt vielsagend „Martha Quest" (Quest: Suche, Frage), es folgt bitterironisch „Eine richtige Ehe", dann kommen „Sturmzeichen" und „Landumschlossen", alles handelnd von familiären und sozialen Bindungen im kolonialen Sudafrika; zuletzt die Flucht der Dreißigjährigen, am Ende von zwei gescheiterten Ehen, zu einem neuen Anfang nach England, in „Die viertorige Stadt" London. Aufatmen der zweiten Textseite: „Sämtliche Zwänge sind weg, niemand kümmert sich um einen, die Maske erübrigt sich."

Es ist dieser Maskenzwang der gesellschaftlichen Komödie, aus dem hier alle Einzeltragödien abgeleitet werden. Sie werfen ihren Schatten auf den Hintergrund der politischen Welt. Daher ist auch die Weltpolitik samt den globalen Gefahren für die Menschheit zu sehen aus der verblendeten, wiewohl modisch wechselnden Perspektive spießbürgerlicher Voreingenommenheiten.

Die Schriftstellerin nennt sich nach ihrem zweiten Ehemann, einem deutschen Emigranten: Lessing. Auch ihre Hauptfigur Martha führte, bevor sie nach Europa auswanderte, kurzzeitig ihre zweite Ehe mit einem aus dem Dritten Reich geflohenen Kommunisten, der aber einen anderen Dichternamen trägt: Hesse. Der Roman-Schlüssel scheint zu passen; offengelegt wird jedoch kein Schlüsselroman, sondern — rücksichtslos aufgeschlüsselt — unsere Zeitgeschichte als moralischer Schundroman.

Eigenwillig hat Doris Lessing mit fünfzehn Jahren die Schule verlassen und sodann aufmerksam alles aus der Schule des Lebens gelernt. Den institutionalisierten Studiengang hält sie für einen denaturalisierenden Dressurakt. Auch gelernte Rezensenten, meint sie, pflegen an der Lektüre vorbeizureden, lesen gar nicht nach, was im Buch steht, wiederholen bloß ihr Wissen von dem, was die Lessing geschrieben hat.

Daher veröffentlichte sie vor kurzem ein tagebuchartiges „Erstlingswerk" unter Pseudonym (ihr ständiger Verleger hatte sich geweigert, es zu edieren), quasi als Leser-Test. Immerhin wurde ihr Stil von einem Kritiker agnosziert. Das Unternehmen war subtil bedacht: Hermann Hesse hatte 1919 aus ähnlichen Motiven das gleiche getan (unter dem fingierten Namel Emil Sinclair) und wurde dennoch Preisgekrönt. Wieder einmal also hatte sich Doris Lessing im Gehaben an den Namen ihrer Romangestalt gehalten: Martha Hesse.

Die in Persien als Offizierstochter geborene und dann auf einer Farm in Rhodesien aufgewachsene Autorin ist nun in fünfunddreißig Aufenthaltsjahren überzeugte Europäerin geworden. Als sie in Wien den österreichischen Staatspreis für europäische Literatur entgegennahm, betonte sie in ihrer Dankrede, daß sie sich über diese Ehrung darum besonders freue, weil sie damit sozusagen offiziell als Europäerin akzeptiert sei. Am Anfang ihrer literarischen Karriere stand ja die „Afrikanische Tragödie" (1950). Zur politischen Folge steht auch auf der letzten Seite der fünfbändigen Romanserie: „Ich habe fünfundzwanzig Jahre in Rhodesien gelebt, ehe ich zur unerwünschten Einwanderin erklärt wurde."

Kind ihrer Zeit? Jedenfalls hat sie die Zeitgenossen als „Kinder der Gewalt" erfahren. Sie gibt da eine „klassische Definition der Paranoia: „Das Gefühl, gekränkt zu werden.... begünstigt die heimlich gehegten Machtvorstellungen..." Der „Anhang" (90 Seiten) behandelt bereits vorsichtshalber utopisch „den Zeitraum zwischen 1995 und 2000", nach „der Weltkrise"; die Rede ist dann nicht mehr von Großbritannien, sondern von einem Gebiet .Mittle England".

DIE VIERTORIGE STADT. Von Doris Lessing. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 1984. 992 Seiten, geb., öS 312,-.

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