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Im Jahr 1957 ist die Welt für Doris Lessing zwar keineswegs in Ordnung, aber sie steht auf einem festen Fundament, von dem aus sie Zeit und Gesellschaft inspiziert. Es sieht nicht gut aus, das muss sie mit Schaudern erkennen, aber die Hoffnung lässt sie sich nicht nehmen. Sie bekennt sich zur engagierten Literatur, immerhin versteht sie sich selbst als Marxistin. Das ist zu dieser Zeit nicht mehr selbstverständlich, zumal im Jahr zuvor der Aufstand in Ungarn niedergeschlagen worden war. Vom klassischen Parteimarxismus hat sie sich in Unfrieden getrennt, das zeigt sich schon darin, wie sie mit den Vorgaben des sozialistischen Realismus abrechnet. Sie spottet über "diesen fröhlichen, unbeschwerten und sonderbar emotionslosen Roman über den kollektiven Betrieb, die Fabrik, den Fünfjahresplan, der an nichts mehr erinnert als an einen kleinen Jungen, der im Dunkeln pfeift.“ Den Roman der westlichen Denkart qualifiziert sie aber genauso scharf ab. Also hält Lessing an der Utopie einer gerechteren Welt fest, die sie nur durch den Marxismus einlösbar findet. Und die Schriftsteller als "die traditionellen Deuter der Träume und der Albträume“ nimmt sie in die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, und dafür muss er "meiner Ansicht nach Humanist werden.“ Marxismus und Humanismus gehen für sie damals noch zusammen.

Anschreiben gegen Alltagsrassismus

Literatur im Lessing’schen Sinn sollte ethische Werte zu ihren Grundlagen nehmen. "Es geht nicht nur darum, das Böse zu verhindern, sondern darum, eine Vision des Guten, welche das Böse besiegen kann, zu entwerfen.“ Das schreibt sie im Essay "Mit leiser persönlicher Stimme“, in dem sie sich deutlich absetzt von Sartre, Beckett, Camus und Genet, denen sie vorwirft, bestenfalls "müdes Mitleid für die Menschen“ zu empfinden. Sie aber sucht "Wärme, Mitgefühl, Menschlichkeit“, wie sie in den großen Romanen des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Ihre eigene Literatur leistet diesem selbst gestellten Auftrag Folge. Das lässt sich leicht an ihrem ersten Roman aus dem Jahr 1950 nachweisen, "Afrikanische Tragödie“.

Lessing, in Südrhodesien, dem heutigen Zimbabwe, aufgewachsen, greift eine Gesellschaft an, in der Rassismus zur politisch legitimierten Alltagspraxis gehört. Während der britischen Kolonialherrschaft stehen sich einander feindlich gesinnte Gruppen gegenüber, den Schaden haben beide. Eine junge Farmersfrau wird ermordet, ein schwarzer Bediensteter gerät unter Verdacht. Aus einem Kriminalfall entwickelt Lessing das Porträt einer Gesellschaft, die in ihren Augen kräftig die eigene Selbstzerstörung betreibt.

Erotik des Denkens

Afrika fühlt sich Lessing fortan verpflichtet. Eines ihrer Anliegen besteht ja darin, dem Kontinent, den europäische Beobachter abzuschreiben geneigt sind, kraft ihres Einspruchs und ihrer Zuneigung zu den Bewohnern Zuspruch zu spenden. Als die Autorin, die sich seit 1949 in England niedergelassen hatte, in späteren Jahren Afrika bereist, wendet sie sich intensiv den Menschen zu. Der Band "Rückkehr nach Afrika“ schildert ihre Eindrücke von Begegnungen mit Menschen, denen sie ihre geballte Zuneigung zuteil werden lässt. Aber weil Lessing zeitlebens ein politischer Kopf ist, greift sie staatliche Behörden an, die akute Probleme kleinreden würden.

Den Durchbruch aber schafft Lessing mit ihrem Roman "Das goldene Notizbuch“ (1962). Damit ist sie nicht nur in eine neue Schaffensperiode eingetreten, sie tilgt damit auch ihr früheres Werk, das bisweilen in seiner formal wenig ehrgeizigen Vorgehensweise und seiner politischen Lehrhaftigkeit etwas gar kleinmütig wirkt. Man sehe sich nur die Erzählung "Er“ von 1957 an, in der eine von ihrem Mann verlassene Frau von diesem besucht wird, ihn schroff abkanzelt, um dann zur doch recht seltsamen späten Erkenntnis zu gelangen: "Denn sie wusste endlich …, dass das Leben ohne ihn überhaupt keinen Sinn für sie haben würde.“

Wenige Jahre später ist von solchen Stillhaltephrasen keine Rede mehr. "Das goldene Notizbuch“ ist eines der wirkmächtigsten literarischen Bücher im 20. Jahrhundert überhaupt, ohne dieses wäre ihr der Nobelpreis nicht zugesprochen worden.

Hier unternimmt sie alles. Sie knöpft sich das 20. Jahrhundert mit seinen Ungeheuerlichkeiten vor. Es ist ein Buch der intellektuellen Selbstvergewisserung einer, die ihren intellektuellen und politischen Wandlungen nachspürt und liefert indirekt eine Begründung der Abwendung vom Marxismus. Sie macht sich Gedanken über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und kriecht mit nie gesehener Beschreibungsakribie in den weiblichen Körper, was zum Monument der Selbstbehauptung wird. Es geht um Macht und Unterdrückung, Aufbegehren und Lust, um Kampf und die Erotik des Denkens, um die Privatheit des Ichs und die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Kein Wunder, dass Lessing die konventionelle Romanform, die sie gerade noch so leidenschaftlich verteidigte, zu eng wurde. Psychologische Innenwelten werden inspiziert, ästhetische Verfahrensweisen diskutiert, politische Möglichkeiten durchdacht. Nun fasziniert sie der Sufismus. Der Mut, sich von klassisch-realistischem Erzählen zu entfernen, wächst mit einem Male.

Fantasievolle Utopien als Denkszenarien

Jetzt wird Lessing überhaupt der Raum knapp in ihrer Alltagswirklichkeit. Sie horcht auf das, was ihr die Fantasie zuspielt und erfindet fremde Welten als Spiegel unserer eigenen. Ein etwas verschobener Blick, nichts stimmt überein mit dem, was wir kennen, und gerade durch die Verfremdung schafft sie es, Utopien als probate Denkszenen vorzuführen. Hat sie einmal die Abwendung vom linearen Erzählen geschafft, wird sie kühn. 1971 erscheint der Roman "Anweisung für einen Abstieg zur Hölle“, dem sie die Genrebezeichnung "Sparte: Fiktion des inneren Raums“ zuweist. Möglichst unmittelbar aus dem Innersten der Psyche heraus, aus den Geheimkammern des Unbewussten, sucht sie zu erzählen, weil anders den Verstörungen einer aus dem Gleis geratenen Existenz nicht beizukommen ist. Mit ihrem fünfbändigen Zyklus "Canopos im Argos“-Zyklus spricht Lessing ab 1979 überhaupt nur noch auf phantastische, sehr vermittelte Weise von uns. Dem Hier und Jetzt kehrt sie den Rücken. Sie erschreibt sich ferne Sternenreiche, die modellhaft stehen für globale Entwicklungen der Menschheit.

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