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Dichter - Schauspieler -Volk

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Anläßlich einer Volksbühnenkundgebung sprach J. P. Sartre in Frankfurt am Main.

Sartre ist keineswegs das, was man eine interessante Erscheinung nennt, ein Vierziger, der Gestalt nach noch nicht mittelgroß, sein Auftreten bescheiden und sympathisch, sein Gesicht nicht sehr ungewöhnlich, das rechte Auge etwas defekt und asymmetrisch wirkend. Starke Brillen fassen den Gesamteindruck des Gesichtes nichtsdestoweniger zu einer Ausstrahlung von Selbstsicherheit zusammen. Manche Züge erinnern an den Filmschauspieler Heinz Rühmann, manche an den Wiener Schauspieler Walter von Varndal.

In meisterhaft formuliertem Französisch impfte er förmlich seinen Vortrag ins zahlreiche Publikum und dokumentierte eine eindringliche Persönlichkeit.

Erlebnisse eines Gemeinschaftskults, wie sie ihm ein Zufall in einem Lager mit 30.000 Kriegsgefangenen und bei Eingeborenen auf Haiti beschert hatte (weil da die künstlerische Aussage eines einzelnen zum Ausdruck der allgemeinen Gefühle wurde), sind den derzeit herrschenden Gesellschaftsschichten Frankreichs und Deutschlands völlig abhanden gekommen. Der Student aus der vierten Galerie und die perlengeschmückte Gattin des Großindustriellen im Parkett oder der gewerbetreibende Theaterliebhaber und der Kritiker auf dem Freiplatz haben keine kulturelle Gemeinschaftsbasis mehr. Infolgedessen habe das wahre Drama, die Tragödie nämlich, kein Lebensrecht mehr, bloß die Komödie, die niemandem wehe tut.

In dieser zerfallenen Gesellschaft gibt es weder den Dichter noch den Zuschauer noch den Darsteller mit dem gemeinsamen Bewußtsein, sich mit dem anderen identifizieren zu können. Um künstlich eine gemeinsame Basis zu schaffen, könne im Augenblick nur aus der sozialen Situation Theater gespielt werden. Nicht, wie bisher betont worden war, der Charakter, sondern die Situation sei das primäre. Aus ihrer Forderung ergibt sich der Charakter eines Menschen. Sartre setzt also voraus, daß die Charaktere im wesentlichen indifferent sind und angesichts einer dramatischen Situation opportune Entscheidungen treffen. Die Widersprüche, zu denen die Menschen durch Situationen gezwungen werden, sind nach Sartre das interessierende Moment eines heutigen Dramas. Er ist ein Verneiner des Christentums, er findet Handlungen, die sich aus dem Charakter eines Helden entwickeln, uninteressant, weil sie nichts weiter als vorauszusehende Folgerungen aus dem Charakter bedeuten. Auch Dramen, bei denen es keine Rechtsprinzipien als die des Königs oder Gottes gibt (Racine), seien dramatisch unergiebig und für den heutigen Menschen uninteressant. Nicht Racine sei — wie man bisher urteilte — der Dichter von Gestalten, wie sie wirklich sind, sondern vielmehr Corneille, von dem man bisher behauptete, er zeichne die Menschen, wie sie sein sollten, voll eigentümlicher Rechtsstandpunkte.

Seit einem Jahrhundert sei die Liebe, und zwar eine abstrakte Liebe zum Idol der Theatergemeinschaft erhoben worden, eine Liebe, die man in gleicher allgemein-gültiger Leidenschaft sowohl einem Schuhmacher als auch einem Gelehrten, einem Fanner wie einem Neger zumuten kann. Auch dies sei ein Irrtum. Liebe sei nicht Liebe.

Für ein Musterdrama halte Sartre die Tragödie eines französischen Kollegen: Eine Stadt, die sich gegen ihren Tyrannen erhoben und sich zum Bollwerk der Demokratie gemacht hat, gerät bei der Belagerung durch den Tyrannen in die verzweifelte Situation, für bloß drei Monate mehr verproviantiert zu sein, während ein befreundeter Entsatz nicht vor sechs Monaten zu erwarten ist. Die Stadtbewohner und der Magistrat, die sich der Demokratie verschworen haben, werden nun den widersprechendsten Gefühlen ausgesetzt in der Erwägung, daß die Stadt entweder ihre Frauen und Kinder gegen ihren Willen in einer undemokratischen Gewaltaktion aus den Mauern entfernen und dem Feinde auf Gnade und Ungnade ausliefern oder daß sie infolge allzu vieler Hungernder in drei Monaten kapitulieren muß. Im ersteren Fall würde Aussicht bestehen, die Demokratie •- allerdings um das persönliche Opfer der Frauen und Kinder — durch den Entsatz retten zu können. Im anderen Fall ginge mit der Freiheit der Stadt auch die Sache der Demokratie in Brüche. Das Beispiel ist aktuell, trotzdem es in mittelalterliches Gewand gekleidet und die Stadt etwa Gent genannt worden ist.

Das Wesentliche einer Volksbühne oder einer Theatergemeinschaft ist die

Bereitschaft, sich in Feierstunden von gemeinsam bewegenden Kräften zu einer Verdichtung, will sagen: Dichtung, leiten zu lassen. Man wollte obiges. Stück aus einer Diskussion heraus beginnen und ebenso ohne Entscheid in einer Diskussion enden lassen. Schließlich habe man dem Publikum die Konzession gemacht, das Drama mit dem Entschluß der Bürger zu einem Ausfall enden zu lassen, der immerhin die Möglichkeit eines Erfolges gegen das Heer der Belagerer sowie eine Streckung des Proviants durch die Verminderung der Besatzung hoffen läßt. Dennoch bleibt die Vernichtung der Stadt und der Demokratie wahrscheinlich.

Unbedingt müsse sich das Drama vor einer Stellungnahme der angeschnittenen Probleme hüten, sonst würde es ein Tendenztheater und langweilig. Folgerungen habe allein der Zuschauer zu ziehen.

Etwas von der Art einer Dichter-Schauspieler-Publikums-Gemeinschaft, die Sartre zur Grundbedingung einer Theatererneuerung für notwendig und im Entstehen erachtet, habe er bei den Laienspielen theologischer Gesellschaften in Frankreich gefunden. Obwohl er den Zweck und die Tendenz dieser Gesellschaften ablehnt, sei er überrascht gewesen, aus welch inbrünstigem Gemeinschaftsgeist gespielt wurde. Es sei wieder so wie im Gefangenenlager gewesen. Jeder sei durch die Feierstunde derart inspiriert worden, daß er für den andern vortreten, zum Künder werden und nachher wieder in die Anonymität der Gemeinschaft zurücksinken konnte.

So gesehen, ist das Wesentliche einer Volksbühne oder einer Theätefgemeuide die Bereitschaft, sich in Feierstunden von gemeinsam bewegenden Kräften zu einer Verdichtung, will sagen: Dichtung von läuternder innerer Aktivität, hinreißen zu lassen.

Den Weg hiezu sehe er in dem aufopferungsvollen Einsatz kleiner und kleinster Gruppen von Kunst- und Theaterbesessenen, die aus Kreisen stammen und mit ihren Darbietungen in Kreise gehen, wo es heute große gemeinsame Nöte gibt. Der Künstler, Dichter wie Schauspieler, ist dann der Wortführer des Publikums und seiner tiefsten Anteilnahme sicher. Es sei klar, daß es heute in dem niedergeschmetterten Europa soziale Themen sein werden, die vor allen Menschen Europas gleichermaßen zu diskutieren sind. Daraus werde zum Vorteil der abendländischen Kultur in absehbarer Zeit auch wieder ein europäisches Theater erwachsen. Soweit Sartre.

Weder das unbedingt erwartete Wort „Existentialismus“ noch das Wort „Materialismus“ fiel. Man ist zur Ausdeutung des ersteren wieder auf Rückschlüsse und auf die von Sartre abgelehnte Psychoanalyse seines (Sartres) vermutlichen Charakters angewiesen. Irgendwie kommt einem nämlich bei seinem Anblick der Gedanke, „Kleiner Mann, was nun?“. In der Sphäre eines Minderwertigkeitskomplexes, der sich krampfhaft innerhalb eines geistigen und seelischen Existenzminimums halten will, dürfte die Wurzel des Sartreschen Existentialismus zu finden sein, genährt vom überhandnehmenden Dung einer armseligen Mitwelt. Wie arm ist doch der Menschr wenn er es verschmäht, groß zu sein! In solcher Verarmung liegt das wahre Elend der Menschheit. Der Materialismus ist nicht dazu angetan, mit seiner Entgöttlichung dem Menschen andere Größe zu verleihen als die einer grauenhaften, grandiosen Selbstaufgabe.

Als vom nahen Dom der Klang der Glocken zum Abendgottesdienst rief und trotz der schalldämpfenden Innenyerklei-dung in die Arena der Paulskirche drang, war es, als ob „Jedermann“ vor Gottes Gericht gerufen würde. Wie soll der Mensch Mühe an die Veredlung seines Charakters wenden, wenn ihm gesagt wird, er habe keinen Charakter? Wenn ihm gesagt wird, sein persönlicher Wert sei lediglich nach der spontanen Reaktion auf irgendein Ereignis einzustufen? Wie soll der Mensch jeweils vor Freveltat bewahrt werden, wenn eine Kultivierung seines Geistes und der Seele von Anbeginn verneint wird? Welche Läuterung erwartet Sartre von seinen „charakterlosen“ Menschen, wenn sie sich gegeneinander in hemmungslosen Situationen austoben? Appelliert er nicht doch an das Gewissen, an die Würde des Menschen und an seine Selbsterziehung, also an die charaktervolle Steigerung und Reinigung einer Persönlichkeit? Appelliert er nicht wie ein „Geist, der stets verneint, der stets das Böse will und doch das Gute schafft“, letztlich unbewußt an das Göttliche im Menschen? Seine Stücke sind Scheidewasser — er weiß es und er will es — (das Drama darf nicht tragisch enden!). Aber Sartre weiß es nicht, .daß er, der Atheist, ein Werkzeug des verleugneten Gottes ist, daß er es ist, durch dessen Szenen Tausende aufgerüttelt werden, seinen Existentialismus zu verabscheuen und sich auf Lben und Tod einem Geiste der Wahrheit zu verpflichten, wie das Christentum ihn offenbart.

War der Vortrag Sartres immerhin dazu angetan, die leidenschaftliche Stellungnahme eines Zuhörers herauszufordern, so vermochten weitere Reden auf dieser Volksbühnentagung nicht über die Grenze der Belanglosigkeit hinauszuwachsen. Bisweilen schien es, als ginge es Um nichts anderes denn eine Wiedererweckung des ehemaligen KdF-Theaters.

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