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„Weit öffnet dir Siena das Herz”

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SIENA. Stadt der lunglrau. Von Titus Burckhardt. Reihe: „Stätten des Geistes” im Urs-Graf- Verlag, Olten und Lausanne. 136 Seiten mit 2g Farbtafeln und vielen Abbildungen im Text. Preis 250 S

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SIENA. Stadt der lunglrau. Von Titus Burckhardt. Reihe: „Stätten des Geistes” im Urs-Graf- Verlag, Olten und Lausanne. 136 Seiten mit 2g Farbtafeln und vielen Abbildungen im Text. Preis 250 S

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Die heilige Katharina von Siena sah in der Stadt das Abbild der Seele: „Die Mauern, die sie umhegen, bedeuten die Grenze zwischen der äußeren und inneren Welt. Die Tore sind die Fähigkeiten, die das Innere mit dem Aeußeren verbinden … ln ihr fließen lebendige Brunnen; im Schutze ihrer Mauern liegen Gärten, und in ihrer Mitte, da, wo das Herz ist, steht das Heiligtum” (Titus Burckhardt).

Gibt es eine andere Stadt, die dieses Bild reiner verkörpert als Siena? Als Siena, die einzige Stadt der Erde, nach der eine eigene Farbe benannt ist? Als Siena, über dessen Haupttor im Norden, der Porta Camollia, der Spruch eingemeißelt wurde: „Cor magis tibi Sena pandit” — „Noch weiter (als dieses Tor) öffnet dir Siena das Herz”? So sehr wir Rom und Neapel, Verona und Florenz lieben — keine dieser Städte hat eine solche Geschlossenheit, keine auch hat ihr mittelalterliches Antlitz so unversehrt und unverfälscht bis auf den heutigen Tag erhalten können wie Siena — nicht einmal Venedig.

ln Siena wird uns wieder bewußt, welch lebensvoller und lebensspendender Organismus einmal die Civitas war. Wissen wir noch, fragt Titus Burckhardt, was eine Stadt ist, „die ihr Maß vom Menschen und ihre Ordnung vom geistigen Ziel der Gemeinschaft empfangen hat? — Siena hat dieses Maß und diese Ordnung bis heute bewahrt. Daj empfindet man am stärksten, wenn man inmitten der Stadt auf dem Campo weilt, diesem weiten und doch schirmenden Platze, der wie eine große Muschel eingebuchtet und rings von hohen gotischen Häusern umstanden ist … Es ist nicht die leicht durchschaubare Ordnung, wie sie gewissen barocken Städten eignet; das Weltall von Siena ist vieldeutig, ist Leib, Seele und Geist wie der Mensch. — Die Lage der Stadt ist den Windungen dreier Hügelzüge angepaßt, die sich wie Adern eines Blattes spreizen, so daß man von jeder sichtfreien Stelle eines Stadtteiles aus den gegenüberliegenden Stadtteil als eine andere und doch dieselbe, aus rötlichen Häusern und Türmen aufgebaute Stadt erblickt. Auf dem höchsten Hügel …steht der Dom. An der Stelle, wo sich die Stadtdrittel gabeln, senkt sich die Mulde des Campo . . .”

Siena ist, so erzählt die Sage, eine Tochterstadt Roms, das sich wieder von Troja, der Mutter aller Städte der’ Welt, ‘herldtėti Senius, ein Söhn des Kimirt, ist ihr Gründet1, Von’ ihm, der rSiie’ seih Väier und Onkel von der Wölfin gesäugt wurde, hat die Stadt ihren Namen: Sena.

ln der Geschichte der Stadt, die einst mit Florenz und Pisa um die Vorherrschaft in der Toskana stritt, spiegeln sich die Gegensätze des Mittelalters, der Konflikt zwischen Papst und Kaiser, Guelfen und Ghibellinen. Von 1186 an, als Friedrich Barbarossa der Gemeinde das Recht der Gerichtsbarkeit, Münzprägung und Wahl ihrer Konsuln verlieh, herrschte lange die Partei der Ghibellinen. 1260 besiegte Siena, das sich unter den besonderen Schutz der göttlichen Jungfrau begeben hatte — Sena vetus civitas Virginis, Stadt der Jungfrau, nannte es sich —, das guelfentreue Florenz und war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Auf die Dauer mußte aber „in diesem Wettstreit mit dem ungleich wuchtigeren, monumentaleren, handfesteren, männlicheren Florenz, wenn auch nach langwierigen Kämpfen, das zartere, lieblichere, vergeistigtere, weiblichere Siena unterliegen” (Eduard Stäuble). Bis zum Jahre 1557 behauptete sich die Stadt — dann nahm Cosimo dei Medici, der spätere Großherzog der Toskana, von Siena Besitz, und es hatte für immer seine Selbständigkeit verloren.

Nicht länger spiegelte das Geschick der Stadt die Geschichte des Mittelalters; für Siena blieb die Zeit stehen. So erklärt es sich, daß uns Siena noch heute als gotische Stadt entgegentritt, in der die späteren Jahrhunderte zwar Spuren, aber kaum Bauwerke hinterlassen haben, während das Gesicht Florenz’ entscheidend von der Renaissance geprägt wurde.

Nur in einem lebt die Renaissance noch heute in Siena: in den kostbaren bunten Trachten der verschiedenen Comparse, die sie an den Tagen des Palio, dem 2. Juli und 16. August jedes Jahres, tragen. Der Palio ist ein seidener Umhang, den es in den auf der Piazza del Campo abgehaltenen Pferderennen zu erbeuten gilt. Um ihn kämpfen Vertreter der 17 alten Stadtteile, der Contrada. Die Tage des Palio sind die richtige Zeit, Siena zu besuchen: auf Standarten, Fahnen und Tüchern leuchten die alten Wappen und Farben auf und geben Siena den Glanz jener Zeit zurück, da die heilige Katharina die Stadt ein Abbild der menschlichen Seele nannte.

Aber auch sonst ist dieser Glanz nicht verblaßt; Siena bewahrt noch heute „innerhalb der engen, rötlich schimmernden Mauern viele Werke lauterster Schönheit … In Siena war Kunst, ihr Genuß und ihre Förderung nicht das Vorrecht einer herrschenden und saturierten Minorität … Alle Bürger, ohne Unterschied des Standes, waren von dem gleichen Streben nach Schönheit, beseelt und betrachteten diese als unabdingbares Merkmal ihrer Würde und Existenz … — Die sienesische Malerei bezeugt eines der einzigartigsten und fesselndsten Ereignisse der ganzen Kunstgeschichte, nämlich das Hervorbrechen und die wunderbare Entfaltung einer mehr als drei Jahrhunderte anhaltenden Tradition” (Enzo Čarli, „Die großen Maler von Siena”, Verlag Anton Schroll, Wien; das Werk bildet eine ideale Ergänzung der vorliegenden Monographie).

Großartig gelingt es Titus Burckhardt, die Lebendigkeit dieser Tradition, die das Wesen Sienas ausmacht (Tradition immer als Nabelschnur zur Realität verstanden!), zu uns sprechen zu lassen. Er führt uns das Bild Sienas vom 12. bis zum 16. Jahrhundert vor Augen, in dem er die Quellen unmittelbar sprechen läßt: die Briefe Katharinas und die Predigten des heiligen Bernhard von Siena, zeitgenössische Memoiren und Novellen, Chroniken und Rechnungsbücher. In seinem Zusammenspiel von Text und Illustration, von Inhalt, Ausstattung und Gestalt ist dieses vielleicht das schönste und nobelste Buch, das nach 1945 im deutschen Sprachraum erschienen ist — das schönste jedenfalls, das wir sehen durften. Jedes Detail, die Wahl der Schrifttypen wie die Anordnung der Bilder, ist bedacht und verrät liebevolle Sorgfalt. So ist das Werk Ausdruck echter humanistischer Geisteshaltung und würdig der mittelalterlichen Buchkunst, den kostbaren Malereien in den städtischen Bicchernae, den Rechnungsbüchern Sienas, die sichtbar im Namen dessen beginnen, mit dem alles begann: mit Gott.

SIENA UND DIE LANDSCHAFT DER TOSKANA.

Photographien von Karl J u d. Text von Dr. Eduard Stäuble. Aldus-Manutius-Verlag, Zürich und Stuttgart. 20 Seiten mit vier Farbtafeln und 48 Kunstdrucktafeln.

Im Schatten der großen Siena-Monographie kommt ein liebenswertes Bändchen zu uns, das viele vortrefflich aufgenommene Ansichten von Siena bietet, um uns dann aus der Stadt hinauszuführen in die umgebende Landschaft, auf die rötlichbraunen Hügel mit den silbergrauen Oliven und den dunklen Zypressen vor einem ewig hellen Himmel, und zu den benachbarten Städten: nach San Gimignano mit ..den hundert Türmen” und nach Volterra, der uralten und finsteren Stadt der Etrusker. Nicht nur die Bilder, auch der einleitende Text verdient alles Lob. Das Bändchen ist eine herrliche Erinnerung an jede Reise durch die Toskana und über ihre Hügel, von deren Rücken und Hängen, einem Wort Carl J. Burckhardts zufolge, das Paradies nie ganz gewichen ist.

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