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Das Epistolario Katharinas von Siena

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Hoch oben im vierten Stock unserer Nationalbibliothek mit dem Ausblick auf den Josefsplazt liegt wohlbehütet die Handschriftensammlung der Nationalbibliothek. Hinter jedem Besucher wird die Türe sorgfältig abgeschlossen. Nur wenige Menschen arbeiten hier oben an der Hebung der geistigen Schätze, die Jahrhunderte aufgehäuft haben. Hier spricht über Zeiten hinweg der fortlebende Geist eines längst Verblichenen zu dem Forscher. Wie nur selten sonst fthlt man hier den Flügelschlag der Jahrhunderte.

An einem der wundervollen Sonnentage des heurigen Sommers war es mir gegeben, in der Handschriftensammlung die im Jahre 1930 von dem italienischen Forscher Eugenio Dupre-Theseider entdeckte Handschrift des „Epistolario“ der heiligen Katharina von Siena im Codex Pala-tinus in Wien in der Hand zu halten, die 280, also die weitaus meisten ihrer Briefe, enthält und wunderbar gut erhalten ist. Am erschütterndsten wirkt das Testament des Schreibers Neri di Landoccio, das sich auf der Rückseite des ersten Pergamentblätt-chens befindet und mit freiem Auge lesbar ist. Es trägt die Inschrift:

„Ich, Neri di Landoccio, will, daß dieses Buch nach meinem Tode dem Kloster Mont Oliveto gehöre und das ist mein letzter Wille und mein Testament.“

In diesem uralten Pergamentblättchen, in das der Zahn der Zeit oder vielleicht auch ein Mauszahn ein großes Loch hineingebissen hat, ist das Zeugnis für die Echtheit dieser Handschrift gegeben und der Zusammenhang mit ihren Sekretären hergestellt.

Es sind die Briefe Katharinas von Siena, der Friedensstifterin Italiens im 14. Jahrhundert, die uns hier erhalten sind, und heute in der Not und Verwirrung der scheinbar einander widersprechenden Völkerinteressen, in der babylonischen Sprachenverwirrung, in der die reine Stimme der Menschheit, die vox humana, unterzugehen scheint, blicken wir voll Ehrfurcht auf die Persönlichkeit dieser Heiligen des 14. Jahrhunderts, der es gelungen ist, ohne Machtmittel, bloß durch die Kraft ihres mit Gott vereinigten Geistes, Menschen zu Gott zu bekehren, Familien zu versöhnen, Italiens Städte zu befrieden, den Papst aus Avignon nach Rom zu führen und eine Reform der Kirche anzubahnen.

Katharina von Siena, die Friedensheilige Italiens und der Kirche (1347 bis 1380), war die Tochter eines wohlhabenden Färbermeisters aus Siena und ohne Kenntnis des Lesens und Schreibens aufgewachsen. Bereits als zwanzigjähriges Mädchen hat sie auf alle, die ihr begegneten, so tiefen Eindruck gemacht, daß der Sieneser Maler Andrea Di Vanni sie damals in der Kirche San Domenico verewigte und daß vor allem die Jugend des Sieneser Adels unter ihrem Einfluß stand. Darunter befanden sich ihre drei Sekretäre, Stefano Maconi, Neri di Landoccio de Pagliaresi und Barduccio Cani-giani. Ebenso groß war ihr Einfluß auf die Geistlichkeit ihrer Umgebung. Zu ihren Jüngern gehörten die hervorragendsten Dominikaner, wie Fra Raimondo delle Vigne, der spätere Dominikanergeneral, Tomaso della Fönte und Tomaso di Antonio il Caf-farini, der ihren Heiligsprechungsprozeß vorbereitete, sowie hervorragende Franziskaner, Augustiner, Vallombrosaner und Olivetaner. Alle sdiildern uns in ihren Erinnerungen den einzigartige Eindruck ihrer Persönlichkeit, die selbst sosehr Wunder war, daß die von ihr berichteten Wunder daneben an Bedeutung verlieren. Dieses, bis zum dreißigsten Lebensjahr des Schreibens nnd Lesens unkundige Mädchen hat in dem Bestreben, unter den italienischen Städten den Frieden zu stiften und den Frieden mit dem Heiligen Vater herzustellen, den Kreuzzug gegen die Türken zu organisieren, die Rückkehr des Heiligen Vaters nach Rom zu veranlassen und die sittliche Reform der

Geistlichkeit einzuleiten, an die Päpste Gregor XI. und Urban VI., an die Fürsten der damaligen Zeit, an die Städte Italiens, an ihre zahllosen Jünger und Schwestern, an ihre Mutter Monna Lapa Briefe diktiert, von denen uns ungefähr 381 in verschiedenen Handschriften erhalten sind. Dieses Briefwerk der Heiligen ist in klassischer toskani-scher Sprache geschrieben, zu einer Zeit, da die anderen, wie ihr Zeitgenosse Petrarca und später Marsilio Ficino, nur lateinisch schrieben. Es stellt eines der größten Briefwerke dar, die uns erhalten sind, und bildet neben der „Leggenda major“ ihres Beichtvaters und Freundes Raimund von Capua die Grundlage zur Erkenntnis ihrer Wirksamkeit, von der sie überwältigendes Zeugnis geben.

So ist denn immer, wenn eine neue Welle der Gläubigkeit die Menschheit durchflutete, die Persönlichkeit der Heiligen neu erforscht und ins Licht gerückt worden. Zum erstenmal hat unmittelbar nach ihrem Tode der Notar Ser Christophano Guidini ihre Briefe gesammelt. Im 17. und 18. Jahrhundert hat Gerolamo Gigli diese Sammlung fortgesetzt, unterstützt von Burlamacchi. Misciatelli hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine große fünfbändige Sammlung ihrer Briefe herausgegeben. All diese Ausgaben stützen sich auf die in Italien vorhandenen Handschriften in der Stadtbibl o-thek von Siena, in Florenz, in Mailand, in Rom und an anderen Orten Italiens. Nun begannen französische Forscher die Echtht des Epistolario zu überprüfen, vor allem Robert Fawtier beschäftigte sich seit (912 mit der Frage der Echtheit des Briefwerkcs, die er bezweifeln zu müssen meinte, weil Briefe in der Handschrift der Heiligen nicht vorhanden waren. Er zog daraus die Folgerung, daß die Persönlichkeit der Heiligen und ihr Einfluß auf die Kirche nicht so überwältigend groß gewesen seien, wie uns in den Berichten ihrer Jünger geschildert wird. Es entstand eine Richtung der Forschung über Katharina von Siena, die der Franziskuskritik von Paul Sabatier ähnlich war.

Da gelang es einern italienischen Forscher, Eugenio Dupre-Theseider, eine neue Handschrift des „Epistolario“ im

Codex Palatinos in Wien zu entdecken. Wir haben also in Wien die größte Handschrift der Briefe der Heiligen, von Neri di Landoccio gesammelt; in Mailand 198 Briefe ihres zweiten Sekretärs Stefan Maconi und in Rom die Briefe des dritten Sekretärs Barduccio Canigiani. Aus diesen Handschriften, zu denen noch einige kleinere kommen, konnte Eugenio Dupr£-Theseider die Kritik Robert Fawtiers entkräften und an die Herausgabe einer neuen Briefsammlung schreiten, von der der erste Band erschienen ist. Jede weitere Arbeit wird mit der kostbaren Handschrift des „Epistolario“ in der Wiener Nationalbibliothek rechnen müssen.

Schon das Zustandekommen dieser Sammlungen grenzt an das Wunderbare, wenn man bedenkt, wie schwer es überhaupt ist, Briefe zu sammeln. So ist es bisher nicht geglückt, ein Briefwerk des großen Staatsmannes Seipel zusammenzustellen, dessen Briefverkehr einen wesentlichen Teil seiner Wirksamkeit bildete; und von diesem Leben trennen uns kaum fünfzehn Jahre, während seit der Geburt der Heiligen nahezu sechshundert Jahre verflossen sind. Nur die grenzenlose Liebe ihrer Jünger hat zu der sofortigen Sammlung der Briefe durch Ser Guidini geführt, die den Kern der späteren Sammlungen durch ihre Sekretäre bildet. Daneben verliert die Frage, die Robert Fawtier aufwirft an Wichtigkeit, ob die Heilige in ihrem dreißigsten Lebensjahr wirklich über höhere Eingebung schreiben lernte, wie es in einem Brief an Raimund von Capua berichtet wird, oder ob dieser Zusatz unecht ist. Denn konnte sie selbst nicht schreiben und lesen, so ist die geistige Beherrschung der damaligen Ereignisse, die sich in den Briefen ausspricht, noch viel wunderbarer, wie überhaupt jedes Wunder vor der Größe ihrer Persönlichkeit verblaßt. Robert Fawtier will beweisen, daß sie nicht die Führerin der Kirche in der damaligen Zeit war und daß die avignonensische Gefangenschaft der Päpste, aus der sie Gregor XL nach Rom heimholte, keineswegs die negative Beurteilung verdienen, die ihr besonders von der italienischen Geschichtsschreibung verliehen wvird. Hier werden offene Türen eingerannt. Die französischen Könige haben zweifellos vor der Zeit des avignonensischen Exils der Päpste ihre großen Verdienste um den Schutz der Kirche. Nur wurden aus den Schutzherren allmählich die Herren der Kirche. Und Katharina war zweifellos nicht die Führerin der Kirche und wollte es nicht sein, sie wollte aber sein: „Serva e schiava de servi di Jesu Christo“, „Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi.“

(Im Verlag Herder wird demnächst das Lebensbild Katharinas von Siena, verbunden mit einer Auswahl ihrer Briefe, von der Verfasserin vorstehenden Aufsatzes erscheinen.)

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