Das Leben ist ein ruhiger Fluss

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Zuerst steht die Überlegung: Soll man Richard Linklater fast drei Stunden lang dabei zusehen, wie er Kinder groß werden lässt? Zumal der dritte Aufguss seiner "Before"-Filmreihe mit Julie Delpy und Ethan Hawke kürzlich nicht wahnsinnig überzeugte wie noch bei den ersten beiden Filmen?

Die Antwort lautet: Ja, man soll. "Boyhood" ist Linklaters Opus Magnum, es ist sozusagen die Essenz aller seiner Arbeiten in einem Film. Es ist die Geschichte eines Erwachsenwerdens und die Geschichte eines Amerika voller Widersprüche. Der Film beschreibt ein ganz normales Dasein, doch die Wucht dieser Geschichte liegt in ihrer Darreichung, in ihrer Machart.

Linklater begann sein Langzeitprojekt "Boyhood" im Jahr 2002. Sein Plan: Er wollte das Erwachsenwerden der Geschwister Mason und Samantha (Ellar Coltrane und Linklaters Tochter Lorelei) quasi in Echtzeit mitbegleiten: Jedes Jahr, so erklärte Linklater seinen Produzenten, wollte er einige Drehtage mit seinen Darstellern verbringen, um neue Spielszenen zu drehen.

Das Projekt sollte zwölf Jahre dauern, bis die beiden Kinder zu jungen Erwachsenen geworden sind. Linklater erzählt von einer ganz normalen Mittelklassefamilie mit Vorstadthaus und großen Autos. Die Eltern, gespielt von Ethan Hawke und Patricia Arquette, altern über die zwölf Drehjahre ebenso sanft wie ihre Kinder. Die Langzeit-Spielhandlung spannt sich vom Beginn der Schulzeit für die Kids bis zu ihrem College-Abschluss. Elegant und ohne große Inserts sind die Drehjahre miteinander verbunden, sodass der ganze Film wie aus einem Guss wirkt.

Kindheit im Zeitraffer

Man verfolgt die erste Liebe der Teenies ebenso wie ihren Abnabelungsprozess von Zuhause, man ist beim Streit der geschiedenen Eltern dabei, im Fast-Food-Restaurant, wo Papa gegen Präsident Bush wettert, während seine Kinder die Burger in sich reinstopfen. Man bekommt mit, wie die Eltern ihre ganz eigenen Karriere-Kämpfe ausfechten müssen, und wie sie damit hadern, Kind, Job und Beziehung unter einen Hut zu bringen.

So entwirft Linklater in "Boyhood" nicht nur den vielleicht kompaktesten und vielschichtigsten "Coming-of-Age"-Film der Filmgeschichte, sondern zeigt in großer Beiläufigkeit auch das gesellschaftliche Konstrukt, das hinter dem US-amerikanischen Lebensgefühl steckt: Man wohnt in großen Vorstadthäusern, mit Garage, Garten, Pool. Am Wochenende geht es mit Daddy zum Campen oder ins Stadion zu einem Baseball-Game. Zum Frühstück gibt es Erdnussbutter-Sandwiches und Mason bekommt zum 15. Geburtstag vom Opa ein Gewehr. Schließlich spielt der Film in Texas.

Obwohl sich "Boyhood" in den abgesteckten Grenzen des US-amerikanischen Lebensentwurfes verortet, verfügt der Film über ein enormes Identifikationspotenzial: Die eigene Kindheit wird einem sozusagen nochmals im Zeitraffer vorgeführt, und es sind die Bilder des ganz "normalen" Aufwachsens, die bei Linklater als packende Tour d'Horizon durch die eigene Jugend funktionieren. Das gelingt, weil Linklater nicht nur großes Glück mit seiner Besetzung hat, sondern seine stimmigen Dialoge auch mit sicherer Hand inszeniert.

"Boyhood" ist niemals der Wirklichkeit entrückt, auch wenn alles Filmische letztlich Fiktion ist: Das echte Leben braucht keine musikalische Umrahmung, der Score des Lebens besteht darin, wie ein ruhiger Fluss zu laufen und nicht wie ein dramatisch zugespitztes Konstrukt. Das ist vielleicht das größte Verdienst dieses wunderbaren Films: Er lässt dem Leben seinen Lauf.

Boyhood USA 2014. Regie: Richard Linklater. Mit Ethan Hawke, Patricia Arquette. Universal. 164 Min.

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