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Aus Deutschland erreicht uns die seltsame Nachricht, daß die bekannte Inhaberin der über das gesamte Bundesgebiet verbreiteten Ladenkette für „diskrete Artikel“, Frau Beate Uhse, durch ihren Rechtsbeistand den Staatsanwalt des Landes Hessen aufgefordert habe, die Beschlagnahme des im Kohlkunstverlag erschienenen Buches „Papa und Mama“ von Otto Mühl, einem Protagonisten der Wiener Happening-Kultur, zu veranlassen. Wir dürfen wohl von der Voraussetzung ausgehen, daß weder geläuterter Kunstgeschmack noch verfeinertes sittliches Empfinden die wirtschaftswunderliche Spitzenverdienerin zu diesem spektakulären Schritt veranlaßt hat. Wir irren sicher nicht, wenn wir annehmen, daß hier die invidia panis communis (zu deutsch „der gemeine Brotneid“) am Werk gewesen ist.

Das Happening stellt nach der Definition von Jean Jacques Lebel und Daniel Pomerulle „eine Kunstform dar, indem es einen allgemeinen Traum in die Erscheinung transponiert“. Dieser Transpositionsvorgang, der nach Mühl in einer „Entzweckung des Geschehens“ kulminiert, muß dem Verkäufer billiger Illusionen, die dem Spießer die nötigen Ingredienzien für seine armselige Lüsternheit verhökern, als gefährlicher Feind erscheinen. Sobald „der allgemeine Traum in die Erscheinung transponiert ist“, sobald die Dinge, „die wir als Objekte unserer Zwecke sehen“ (Mühl), entzweckt, entwirklicht und formal begriffen werden, werden die Traumfabriken der Frau Uhse große Teile ihrer gläubigen Klientel verlieren. Wolf Vostell hat die „Aufhellung- des Gegensatzes zwischen Künstler und Publikum“ als wesentliches Element des Happening bezeichnet, andere Definitionen legen mehr Wert auf die Tatsache, daß es ich beim Happening um eine Folge von „Geschehnissen handelt, die, mehr oder weniger vorherbestimmt, einfach zustande kommen“. Beide Feststellungen enthalten nur empirisch gefundene Hilfsvokabeln, die Phänomene zu erfassen suchen, die dem Happening häufig, aber nicht regelmäßig anhaften. Gerade die „Aneinanderreihung und Mischung von Symbolen“, die Mühl für seine Aktionen in Anspruch nimmt, ist nur möglich, wenn die „Vorherbestimmung“ das „zufällige Zustandekommen“ beträchtlich überwiegt. Der Titel des in Deutschland zur Beschlagnahme beantragten Buchs von Otto Mühl weckt die Erinnerung an die Materialaktion Nr. XI, die den gleichen folgenschweren Namen trug und 1964 — also nach der „Destruktion eines weiblichen Körpers mit Lebensmitteln“, dem bekannten Happening im Chattanooga-Club — als Aktion „für Film und Photographie“ stattfand. Eine Bilderserie dieser Materialaktion findet man in „Aufforderung zum Mißtrauen“ (herausgegeben von Otto Breicha und Gerhard Fritsch, Salzburg 1967). Neben der Bilderserie ist eine Definition der Materialaktion von ihrem Erfinder abgedruckt: „Materialaktion ereignet sich in einem bewußt ausgewählten Wirklichkeitsbereich mit bewußt ausgewählten Materialien. Sie ist ein räumlich dynamisches Geschehen, wobei die verschiedensten Materialien und Wirklichkeitselemente miteinander verbunden, vertauscht, auf den Kopf gestellt, destruiert und deformiert werden ... Alle Möglichkeiten des Materials werden ausgeschöpft... Materialaktion ist direktes Geschehen (direkte Kunst).“

Hier wird von kompetenter Seite der Wirklichkeitsbezug hervorgehoben, den Lebel und Pomerulle als „Transposition eines allgemeinen Traums in die Erscheinung“ bezeichnet haben. Ergänzend und erinnernd soll festgehalten werden, daß bei der Aktion „Mama und Papa“ ein Luftballon auf Mama zerdrückt wird,

Papa steckt ihr „eine Rose zwischen die Hinterbacken“ und taucht „als Säugling zwischen ihren Schenkeln auf“. Es werden also häufig vorkommende, dem Psychoanalytiker wohlvertraute Trauminhalte „entzweckt“ und formal neu gestaltet. Die Transposition in „die Erscheinung“ wird durch „Aneinanderreihung und Mischung von Symbolen“ erreicht. Dem zufälligen Zustandekommen bleibt in den Materialaktionen nur mehr verhältnismäßig wenig freier Raum. Alle entscheidenden Phasen der Aktion „Mama und Papa“ waren durch den Willen des Veranstalters und der Akteure vorherbestimmt. Trotzdem kann den Materialaktionen Mühls — soweit sie in Wien stattfanden — Happening-Charakter zugebilligt werden.

Hermann Nitsch untermauert seine Konzeption vom OM-Theater (Orgien-Mysterien-Theater) mit der lapidaren Feststellung: „Der Zuschauer (Teilnehmer, Mitspieler) wird einem intensiveren ästhetischmystischen Begreifen unterworfen... Die Form verdichtet die Umwelt im genießenden Sinn und rückt sie näher an uns heran, treibt uns stärker in unsere eigene Lebendigkeit ...“

Hier ist die unmittelbare Beziehung zur Happening-Definition von Lebel und Pomerulle gegeben. Die „Verdichtung der Umwelt“ entspricht ziemlich genau der „Transponierung des Traums in die Erscheinung“. „Die Kultur scheint uns den Blick auf die sinnliche Wahrnehmung zu verstellen“, kommentiert Oswald Wiener, der das eigentliche Verbindungsglied von der alten Wiener Happening-Tradition der Wiener Dichtergruppe zu den Aktivitäten von Mühl und Nitsch darstellt, „wir müssen außerhalb der Sprache operieren, um die menschliche Kommunikation durch die eigentliche Wirklichkeit zu ersetzen.“ Die von Oswald Wiener in seinem „Vorwort zu Nitsch“ angedeutete „Brechung der Konvention unserer Sinnlichkeit“ ist gerade der Befreiungseffekt, den Frau Uhse am meisten fürchtet.

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