"Die Ros ist ohn warum"

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François Cheng meditiert über die Schönheit und konfrontiert das westliche Denken mit dem unvertrauten asiatischen.

Kardinal Richelieu gründete 1634 die Académie française, die noch heute unter allen europäischen Akademien für Sprache und Dichtung das höchste Ansehen genießt. Die Zahl ihrer Mitglieder ist auf 40 beschränkt. 2002 wählte das erlauchte Gremium zum ersten Mal einen Asiaten zum Mitglied: François Cheng. Der Chinese kam 19-jährig mit einem Stipendium nach Frankreich, ohne ein Wort Französisch zu sprechen. Seit 1973 ist er französischer Staatsbürger; er beherrscht das Französische so gut, dass er in dieser Sprache wissenschaftliche Werke, Romane und Gedichte geschrieben und französische Dichter ins Chinesische übersetzt hat.

Ein französischer Vorname, ein chinesischer Familienname: Damit drückt der Philosoph, Dichter, Wissenschaftler und berühmte Kalligraf aus, dass er zwei Welten verbunden ist. Sartre behauptete: "Nennen ist besitzen." François Cheng antwortet auf die Frage, was es heißt, in einer neuen Sprache zu leben: "Um-nennen bedeutet, auf das Besitzen zu verzichten, bedeutet eine Umwandlung …"

Kein schmückender Zusatz

Aus seinem neuesten Buch, "Fünf Meditationen über die Schönheit", hört man seine Stimme, eine leise, bescheidene Stimme. Die hier enthaltenen Gedanken entwickelte er vor einem Freundeskreis aus Künstlern und Wissenschaftlern, Philosophen, Anthropologen, Kennern und Nichtkennern des Orients. Er wollte nicht in einsamer Klause seine Gedanken niederschreiben, denn nach seiner Überzeugung entfaltet sich wahre Schönheit nur in der Begegnung und im Austausch.

Cheng wurde mit zehn Jahren Zeuge des Gemetzels von Nanking, in dem japanische Soldaten 300.000 Chinesen ermordeten: "Ich weiß, dass das Böse, die Fähigkeit zum Bösen, universell und der gesamten Menschheit eigen ist." Wo bleibt da Raum für das Schöne? Cheng kennt die negative Antwort der westlichen Kunst seit dem frühen 20. Jahrhundert: "In einer Zeit der Verwirrung der Werte ist es vorteilhafter, ironisch, zynisch, sarkastisch, desillusioniert oder auch betont lässig aufzutreten." Er versucht einen anderen Weg. Ihm scheint, dass das Ziel des Universums die Schönheit sei. Ein nur wahres Universum wäre rein funktionell, eine Roboter-Ordnung, keine Lebens-Ordnung. Das Universum ist nicht dazu verpflichtet, schön zu sein. Und doch ist es schön, weil, so Cheng, alles zur Schönheit hindrängt. Er scheut sich nicht, wahre Schönheit - etwa in der Natur - mit dem Heiligen in Verbindung zu bringen. Schönheit ist kein überflüssiger oder schmückender Zusatz. Zum Beweis zitiert Cheng den Dichter Angelus Silesius aus dem 17. Jahrhundert: "Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet, / Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet." Cheng spricht bei der Schönheit der Frauen von der kommerziellen, zum Tauschwert oder Verführungsmittel degradierten. Sie hat nichts mit Liebe und Einklang zu tun, "die schließlich den Daseinsgrund der Schönheit ausmachen sollten."

Aus einem Dazwischen

Schritt für Schritt, geduldig, nimmt dieser Weise den Leser auf eine Denk- und Fühl-Reise mit, an deren Ende eine für westliche Menschen gewaltige Überraschung steht. Wir im Westen denken immer bipolar: Bei uns sind die Dinge entweder schön oder hässlich, die Menschen entweder gut oder böse … Chinesen denken anders: "Nach ihrer Auffassung entspringt die wahre Schönheit … aus der Begegnung zweier Wesen oder aus dem Zusammentreffen des menschlichen Geistes mit dem lebendigen Universum. Und das schöne Werk, das immer aus einem, Dazwischen' entsteht, ist ein Drittes, das - der Interaktion von Zweien entsprungen - diesen erlaubt, sich zu überschreiten." Ethik und Ästhetik trennt Cheng nicht: Wie kühn. Würde ein Westler solche Gedanken verbreiten, wäre ihm der Vorwurf gewiss, dem alten Zopf vom Wahren, Guten und Schönen nachzutrauern.

Francois Chengs Buch eignet sich nicht zum Verschlingen. Es fordert vom Leser Konzentration und die Fähigkeit, sich für fremd anmutende Gedanken zu öffnen.

FÜNF MEDITATIONEN ÜBER DIE SCHÖNHEIT

Von Francois Cheng

Aus dem Franz. von Judith Klein

Verlag C. H. Beck, München 2008

156 Seiten, geb., € 15,40

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