Europa, so weit das Schwarzbrot reicht

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Sozialhistoriker Michael Mitterauer erklärt, warum Europa zu Europa geworden ist: Roggen, Wassermühle, Lehenswesen und Papstkirche wirken bis heute.

Ohne Schwarzbrot gäbe es keine EU-Erweiterung. Ja, ohne Schwarzbrot gäbe es nicht einmal dieses Europa. So krass formuliert es Michael Mitterauer nicht. Doch mit ein wenig journalistischer Zuspitzung lässt sich aus Mitterauers Forschungen dieser Brot-Europa-Zusammenhang schon herstellen.

"Warum Europa?" fragt der Wiener Sozialhistoriker in seinem jüngsten Buch: Dabei will er keine Bausteine liefern für jene, die am Auf- und Ausbau Europas beteiligt sind. Mitterauer will Europa erklären, nicht bauen. Zweiteres sei Aufgabe der Politik, sagt er und schränkt ein: "Es ist gefährlich, mit Geschichte zu legitimieren, was in der Gegenwart entschieden werden muss."

Der Historiker warnt davor, mit Geschichte Schindluder zu treiben: Wer heute auf Karl den Großen und sein Riesenreich verweist und damit die Erweiterung der EU rechtfertigen will, liege falsch. Genauso könnten Iraker mit Verweis auf das Kalifat in Bagdad ein Territorium von Mittelasien bis Südspanien beanspruchen. Deswegen hört es Mitterauer nicht gern, wenn die EU-Erweiterung "Wiedervereinigung" genannt wird: Dieser Raum, diese in vielen Aspekten einheitliche Kultur war nie eine politische Einheit.

Verbunden war man trotzdem: zuallererst durch das Schwarzbrot. Erst mit dem Anbau des Roggens im Frühmittelalter ist zum "Europa des weißen Brotes" im Mittelmeerraum das "Europa des schwarzen Brotes" im Norden und Osten des Kontinents dazugekommen, lautet die These von Mitterauer. Mit den neuen Kulturpflanzen Roggen und Hafer wurde die entscheidende Grundlage für die Erschließung neuer Siedlungsräume geschaffen.

Brot- statt Ideengeschichte

"Man soll europäische Geschichte nicht nur von den Ideen her schreiben", mahnt Mitterauer. Bert Brechts Diktum umgewandelt, könnte man Mitterauers Anliegen so zusammenfassen: Zuerst kommt der Nahrungsspielraum und dann der Kulturraum.

Mit dem Roggen verbreitet sich die Wassermühle. Das vertikale Mühlrad kommt aber auch beim Stampfen von Tüchern, beim Holzschneiden, bei der Papiererzeugung und im Bergbau zur Anwendung. Technische Hochleistungen sind die Folge. Die Grundsteine in Richtung Industrialisierung, in Richtung Marktwirtschaft, in Richtung Energienutzung, in Richtung Kriegsrüstung werden gelegt. Ein Fundament, auf das nicht nur die europäische Erfolgsgeschichte, sondern auch Fehlentwicklungen wie Umweltzerstörung, Ausbeutung der Bodenschätze, Manchesterkapitalismus und Kolonialismus aufbauen, erklärt Mitterauer. "Stolz ist keine geeignete Kategorie für den Umgang mit Geschichte", meint der Historiker, "mit einer Wir-sind-besser-Einstellung kommt man nicht weit."

Wie schnell sich nämlich Fortschritt in Rückständigkeit verwandelt, zeigt Mitterauer am Beispiel der frühmittelalterlichen Transportrevolution im islamischen Raum: Neue Sattelkonstruktionen ermöglichten den Einsatz des Kamels; große Distanzen konnten damit schnell zurückgelegt werden, ein riesiges Kommunikationsnetz entstand; der Wagen wird jahrhundertelang nicht genutzt. Europa indes setzte auf das Zugtier und blieb anfänglich zurück. Doch auf weite Sicht wirkte sich die alleinige Orientierung hin zum Kamel negativ auf die Verkehrsentwicklung im islamischen Raum aus: "Die Fortschrittlichkeit des Frühmittelalters wurde in der Moderne zu einem Faktor der Rückschrittlichkeit."

Viele "Verkettungen von Umständen", die weit reichende gesellschaftliche Folgen auslösten, sind laut Mitterauer das spezifisch Europäische. Diese Verkettungen bilden den "europäischen Sonderweg". - "Wer ihn als Weg zu klar abgrenzbaren Räumen der Gegenwart verstehen will, muss hoffnungslos scheitern", sagt Mitterauer. "Die EU lässt sich weder in ihren aktuellen Grenzen noch unter Einbeziehung bestimmter Kandidatenländer als räumliches Produkt dieses Sonderweges begreifen. Erweiterungsdebatten unter dieser Prämisse münden notwendig in ideologische Legitimationsideologien."

Auf das Kamel gekommen

Bei der Frage nach den Grenzen der EU helfen die geografischen Konventionen nicht weiter. Historische Räume weichen von der Geografie ab. Mitterauer nennt die räumlich trennenden Meere und Flüsse als Beispiele für ein kulturell verbindendes Moment in der Geschichte. Und europäische Erungenschaften hielten sich sowieso nicht an wie auch immer gezogene Grenzen: Buchdruck, Universitäten, parlamentarische Demokratie nennt Mitterauer als Beispiele, die weltweite Verbreitung fanden.

Mit Griechenland und Zypern hat die EU bereits die Grenzen der Westkirche überschritten. Und das nicht, weil Griechenland die Wiege der heutigen Demokratie ist. Auch wenn der Text zur EU-Verfassung mit einem Zitat von Thukydides beginnt, liegen die Wurzeln moderner Demokratien im mittelalterlichen England und im Frankenreich. Mitterauer: "Im ganzen Bereich des Lehens-Europa gab es uralte Traditionen der Mitbestimmung" - und "man kann mittelalterliche Ständeversammlungen sicher nicht als Legislative' bezeichnen, aber sie haben viele Aufgaben wahrgenommen, die später Parlamenten zukamen."

Ermöglicht wurden diese und andere Entwicklungen durch die "produktive Trennung" zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Mitterauer rechnet die Papstkirche mit ihrem weitverzweigten Kommunikations- und Organisationsnetz zur Überraschung vieler nämlich nicht zu den beharrenden Kräften in Europa, sondern zu den "Bedingungsfaktoren für revolutionäre Aufbruchsprozesse".

"Bis zum Jahr 1000 war die fundamentale Arbeit in Europa getan", zitiert Mitterauer den Anthropologen Louis Dumont. Bis dahin sind die entscheidenden Weichen für die europäische Sonderentwicklung gestellt gewesen, sagt der Historiker. Doch "alte Strukturgrenzen sind für heute nicht verbindlich", fährt Mitterauer fort. Was Europa in der Zukunft ist und warum Europa dann noch Europa sein wird, diese Fragen kann die Geschichtswissenschaft nicht entscheiden.

Buchtipp:

WARUM EUROPA?

Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs,Verlag C.H.Beck, München 2003, 352 Seiten, geb., e 24,90

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