Michael Mitterauer - © Foto: Thomas Mitterauer

Michael Mitterauer: Die vielen Wege eines Sozialhistorikers

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Den Blick von der großen Strukturgeschichte hin zu den kleinen Lebensgeschichten zu lenken: Das hat Michael Mitterauer zeitlebens versucht. Nun ist er 85-jährig verstorben. Eine persönliche Würdigung.

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Den Blick von der großen Strukturgeschichte hin zu den kleinen Lebensgeschichten zu lenken: Das hat Michael Mitterauer zeitlebens versucht. Nun ist er 85-jährig verstorben. Eine persönliche Würdigung.

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Eine Wiener Straßenbahnlinie zog sich wie ein roter Faden durch sein Leben: der 43er! Er führte ihn über mehrere Jahrzehnte von Dornbach, wo er wohnte, zum Schottentor. Hier ging er ins Schottengymnasium. Hier studierte er Geschichte und Kunstgeschichte. Hier wirkte er am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte als Professor. Und wie er wirkte … Nun, am 18. August, ist der Sozialhistoriker Michael Mitterauer nach langer schwerer Krankheit im 86. Lebensjahr gestorben.

Als ob ihm sein beständiger Weg von Dornbach zum Schottentor die Basis für die vielen aufregenden Wege gewesen wäre, die er als Historiker beschritt. Dem promovierten Mediävisten waren die historischen Epochen irgendwann genauso gleichgültig wie die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen und des universitären Elfenbeinturms. Er fragte aus der Gegenwart heraus, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Nicht um die Legitimation der Gegenwart über Geschichte ging es ihm dabei, sondern ums Verstehen und um Begegnungen. Und er fragte dabei nach der Geschichte von Themen, die für uns alle im Alltag bedeutsam sind: Familie, Verwandtschaft, Kindheit, Jugend, Geschlechterrollen, Religion u. v. m. So hat er die Historische Familienforschung und in weiterer Folge die Historische Anthropologie wesentlich mitbegründet.

Das alles tat Mitterauer nicht nur im Archiv, sondern auch, indem er Menschen zuhörte – weniger den Herrschenden, sondern den sogenannten kleinen Leuten: Mägden und Knechten, Bäuerinnen und Bauern, Arbeiterinnen und Arbeiter, Migrantinnen und Migranten. Die biografischen Gesprächskreise zwischen Alt und Jung, die er gemeinsam mit Studierenden in der VHS Ottakring Anfang der 1980er Jahre initiierte, waren der Beginn der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, wo sich inzwischen mehrere Tausend Erinnerungstexte befinden. Mitterauer hat dabei die von ihm Befragten nie als bloße Forschungsobjekte gesehen, sondern immer als Partner. Und es war ihm ein Anliegen, jenen Bevölkerungsgruppen, die vormals von der Geschichtswissenschaft ignoriert worden waren, eine breitere Öffentlichkeit zu geben. Die Buchreihe „Damit es nicht verloren geht …“ im Böhlau Verlag zeugt davon.

Mit seinem schier endlosen historischen Wissen, seiner Leidenschaft und Neugier hat Mitterauer mehrere Generationen von Studierenden, jungen Forschenden und ­Pädagogen geprägt und begeistert. Seine Einführungsvorlesung in die Geschichte war legendär. Und während andere ihren Blick vor allem in Richtung Westen richteten, um wissenschaftlich zu reüssieren, initiierte Mitterauer lebendige Kooperationen in Südosteuropa, vor allem in Bulgarien. Neben all dem hat er unzählige Bücher geschrieben. Für eines, „Wozu Europa“, hat er 2004 den alle drei Jahre vergebenen Deutschen Historikerpreis erhalten – als bislang einziger Österreicher. Wir werden ihn vermissen und zugleich unvergessliche Erlebnisse in Erinnerung behalten. Dass viele auf den Wegen weitergehen, die er eröffnet hat, das ist tröstlich.


Der Autor war langjähriger Mitarbeiter Michael Mitterauers. Bis heute ist er in der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen sowie bei Erzählcafés aktiv.

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