6551936-1947_49_10.jpg
Digital In Arbeit

Ernst Mischler

Werbung
Werbung
Werbung

Mit dem Begriffe Statistik verbindet sich meist die Vorstellung von staubigen Ziffern. Wer aber Ernst Misdilers Vorträge besudite, gewann bald die Überzeugung, daß nach einem Lieblingswort dieses Gelehrten Zahlen bloß an der Eingangspforte der Statistik stehen; denn die Hörer seiner Kollegien wurden wenig mit Rechenkünsten geplagt, erfuhren jedoch viel Wertvolles und, Anregendes über den biologischen und beruflichen Aufbau der Völker, über Wohnungsnot, die hieraus erwachsenden gesund-heitlidien und sittlichen Gefahren und die Möglichkeit ihrer Bekämpfung, über Entstehung und Lagepläne von Dorf und Stadt. Würden wir daher bloß beridn^n, daß Ernst Mischler Professor der Statistik und Finanzwissenschaft war und am 28. Dezember 1912 als Präsident der damaligen k. k. Statistischen Zentralkommission im Alter von 55 Jahren starb, so wäre diese Angabe unvollständig. Denn nur ein Teil seines Lebens vollzog sich in der berühmten „stillen Gelehrtenstube“: seine große Schaffensfreude stellte ihn vielmehr mitten in die Probleme der Wirtschaft und Sozialpolitik und ver-anlaßte ihn zu vielen Einrichtungen, die zwei Weltkriege überdauerten und bis heute Ansehen genießen. Eigentlich ist diese Geistesrichtung nicht verwunderlich, denn bereits sein Vater, Peter Mischler, gleichfalls Universitätsprofessor und Nationalökonom, beschäftigte sich mit der damals viel erörterten „sozialen Frage“ und zählte zum Mitarbeiterkreis des großen Mainzer Bischofs Ketteier. Peter Mischler lehrte ursprünglich in Freiburg, dann in Prag, und hier, in Böhmens Hauptstadt, kam am 23. Dezember 1857 sein Sohn Ernst zur Welt, den dann die akademische Laufbahn nach Prag, wo seine Antrittsrede das Verhältnis zwischen .jalter und neuer Universitätsstatistik“ behandelte, Czernowitz, Graz und Wien führte. 1911 zum Präsidenten der Statistischen Zentralkommission ernannt, hat er dieses durch Jahrzehnte erstrebte Amt infolge frühen Todes nur 22, allerdings sehr fruchtbare Monate bekleidet.

Wichtiger als äußere Daten ist ein Bericht über seine Leistungen und Werke. Durch Innama-Sternegg mit der von diesem geleiteten Statistischen Zentralkommission zusammengeführt, wirkte er hier zunächst bei *der Bearbeitung der Volkszählung von 1^80 mit. Bald aber vertiefte er sich auf Grund <der so gewonnenen allgemeinen Kenntnisse in Einzelprobleme, vorzüglich sozialer Art. Diese Tätigkeit fällt namentlich in die Jahre des Grazer Aufenthaltes (1893 bis 1911). Hier errichtete er ein statistisches Landesamt, wie er ein solches bereits in Czernowitz gegründet hatte. Aber auch dieses war ihm nicht Selbstzweck, sondern diente vor allem zur Begründung und Beleuchtung umfassender sozialer Pläne und Vorschläge. Gleich das erste Heft der steirischen „Mitteilungen“ war dem Armenwesen dieses Landes gewidmet, und bald erweiterte er sein Lieblingsgebiet durch zwei große Schöpfungen, nämlich die gemeinnützige Arbeitsvermittlung für Graz und Steiermark (1897) und den unentgeltlichen Wohnung s-n ach weis (1902). Um diese Anstalten, in deren Räumen in der Hofgasse heute noch eine Abteilung des Grazer Arbeitsamtes amtiert, nach Gebühr zu würdigen, müssen wir beachten, daß Arbeits- und Wohnungsvermittlung damals so gut wie ausschließlich von Privatbüros betrieben wurde, welche diese Tätigkeit vornehmlich vom Profitstandpunkt ausübten und dadurch namentlich den mittellosen Arbeits- oder Wohnungssucher schwer belasteten. Die Errichtung des Arbeitsnachweises bildet ein .besonderes Ruhmesblatt. Denn so wie Österreichs Statistisches Staatsamt, 1829 gegründet, zu den ältesten Europas zählt, so hatte auch der öffentliche Arbeitsnachweis bloß zwei oder drei Vorbilder in anderen Ländern, und auch diese waren bloß wenige Jahre früher entstanden. Mischler begnügte sich von Anbeginn nicht mit einer bloßen Landesanstalt, sondern gedachte, die ganze Monarchie mit einem Netz von Arbeitsnachweisstellen zu überziehen. Schon 1906 konnte er den „Reichsverband der allgemeinen Arbeitsvermitt-lungsanstalten Österreichs“ gründen, und weitere viel verheißende Ansätze hatte er in Wien erreicht, als sein Tod und bald darauf der Kriegsausbruch weitere Erfolge hemmte. Immerhin beweist es die Notwendigkeit dieser Einrichtiung, wenn Ende 1918 nieht nur die Republik Österreich, sondern auch andere Nachfolgestaaten öffentliche Arbeitsnachweisstellen errichteten. Es würde zu weit führen, die spätere Entwicklung aufzuzeigen. Der Hinweis genüge, daß unsere Arbeitsämter auf Professor Mischler zurückgehen und somit heuer ihren 50jährigen Bestand feierten.

Andere Arbeiten Mischlers Betrafen das Findelwesen, den Landes- und Gemeindehaushalt und Schicksal, Verschulden und Besitrwechsel bäuerlicher Anwesen. Wie als Schriftsteller, hat Mischler auch als geschätzter Teilnehmer an vielen internationalen Tagungen für Statistik, Armenpflege, Arbeiterschutz, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, seine Ziele gefördert und Österreich ehrenvoll vertreten. Dauernd ist sein Name mit dem von ihm und seinem Prager Kollegen Ulbrich herausgegebenen, heute noch wertvollen Staatswörterbuch verbunden.

'Energie und der aus seiner tiefen Kenntnis von Mensch und Menschlichem entquollene Hang zu einer gewissen Ironie und Satire, offenbarten sich auch in Mischlers Vorlesungen sowie bei Prüfungen und Kolloquien. Mischler wollte dabei aber nicht verletzen und entmutigen, sondern das Pflichtgefühl, die Gründlichkeit und Selbsterkenntnis seiner Schüler mehren. Vor allem lag ihm daran, den Hörern die Not breiter Volksschichten und die Verantwortung der gebildeten und leitenden Kreise vor *iugen zu führen.' Hiezu dienten ihm nicht nur Vorträge und Seminarübungen, mit Bedacht schickte er uns audi in Arheiterwohnungen und Fabriken, um die sozialen Verhältnisse an Ort und Stelle kennenzulernen.

„Ein großes Talent, ein vielseitiger, emsiger Gelehrter, ein fruchtbarer Schriftsteller, ein verdienstvoller Lehrer, vor allem aber ein Organisator, der Arbeitskräfte zu finden und zu gemeinsamem Wirken zu vereinigen wußte, der neue Wege suchte und fand. Unermüdlicher Schaffens irang, aber aud: rastloser Ehrgeiz beseelten seine Tätigkeit, die sich, wenn möglich, auch gegen den Willen anderer durchsetzte.“ Mit diesen Worten endet der Nachruf, den ihm das Amt widmete, mit dem er zeitlebens verbunden .war. Vollinhaltlich und dankbar unterschreiben seine einstigen Schüler, da sich Mischlers Geburtstag'zum 90. Male jährt, diesen Satz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung