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Deutsches Haiku

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HAIKU. Von Imma Bodmershof. Mit Zeichnungen von Ruth Stoffregen. Albert Langen-Georg Müller Verlag, München-Wien, 1962. 152 Seiten. Preis 19.80 DM.

Dieses Buch enthält etwas ganz Neues, Einzigartiges. In ihm stehen, wenn ich nicht irre, die ersten Haiku in deutscher Sprache, zum mindesten die ersten, die im Druck erschienen sind. Nicht um Übersetzungen und Nachdichtungen der japanischen siebzehnsilbigen Dreizeiler handelt es sich hier, nicht um Weiterbildungen und Spielereien, sondern um der Haikuform entsprechende aphoristische Gedichte, die dem gegenwärtigen (und freilich zugleich zeitlosen) Empfinden eines in der deutschen Sprache dichtenden Menschen entsprungen sind. Ein Leser, der nichts vom Haiku wüßte, würde vielleicht gar nicht merken, daß diese Gedichte auf japanische Anregungen zurückgehen. Trotzdem ist der japanische Ursprung natürlich unleugbar: die extreme Kürze ist japanisch, die Silbenzahl (wenn auch ohne pedantische Anwendung) ist japanisch, das Jahreszeitenthema ist japanisch, das Clairobscure, die Dingnähe, der Hauch des „Leeren“ (in abendländischer Sprache des Kosmischen oder Absoluten) ist ebenfalls japanisch. Aber nichts in diesen Gedichten ist kopiert, alles strömt aus dem unabhängigen Sein der Dichterin, so wie es sich bisher vor allem in ihren Romanen aussprach. Gewiß könnte man im Sinne Goethes von einer westöstlichen Dichtung sprechen. Aber man muß auch feststellen, daß die Motivwelt in diesen Gedichten nicht japanisch ist, sondern abendländisch; nichts in diesen Gedichten ist exotisch oder fremd, alles geht uns unmittelbar an.

Der Verfasser dieser Zeilen hat mehr als 30 Jahre im Haiku-Land Japan gelebt und sich ebenso lange bemüht, alles, wie ein japanischer Dichter sagt, „als Haiku“ zu sehen. Die Versuche, diese zugleich naiven und diffizilen Gebilde in andere Sprachen zu übertragen, habe ich stets begrüßt, wenn auch mit Skepsis hinsichtlich des Gelingens. Als man vor zwei, drei Jahren in Amerika und Großbritannien begann, „englische“ Haiku zu schreiben, blieb ich unüberzeugt. Die deutsche Haiku Imma Bodmershofs jedoch haben mich sofort gewonnen. Freilich muß ein abendländischer Haiku-Dichter den japanischen Haiku-Geist oder etwas Verwandtes in sich haben, er muß Einfühlungsvermögen und Selbständigkeit in sich zu vereinen imstande sein. Das sind Bedingungen, die von Imma Bodmershof in jeder Beziehung erfüllt werden. .Daß diese ersten, so ansprechenden deutschen Haiku, die sicher viele Leser beeindrucken werden, nicht zu schnell Nachfolge finden, sondern noch eine Weile „einmalig“ bleiben, wäre beinahe zu wünschen.

Den Gedichten ist eine ausgezeichnete Studie Wilhelm Bodmershofs über das Haiku beigefügt, eMne Analyse auf hoher Ebene, die auch dem Haiku-Kenner etwas gibt. Zu der Magie des Buches tragen die Zeichnungen von Ruth Stoffregen viel bei, auch sie sind in überraschender Verschmelzung westöstlich Wer das schöne Buch einmal aufgeschlagen und auch nur zwei, drei Gedichte gelesen hat, wird später immer wieder darnach greifen.

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