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Geschichte und Gegenwart des Haiku

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Ein Haiku ist bekanntlich die kürzeste Gedichtform, nur aus 17 Silben bestehend, in drei Zeilen aufgeteilt, wobei der ersten und dritten Zeile jeweils fünf Silben, der zweiten Zeile sieben Silben zukommen. Darüber hinaus soll ein für die Jahreszeit typischer Natureindruck mit allegorischer Bedeutung wiedergegeben werden. Kigo stammt wie das Wort Haiku aus dem Japanischen und bedeutet „Saisonwort", also ein Wort, das die Jahreszeit klar erkennen läßt. Treibeis steht dabei nicht, wie angenommen werden könnte, für Winter, sondern für Frühling, da eine Scholle, vom Eisland gelöst, bereits wärmeren Gefilden zustrebt. Auf ähnliche Art kam auch das im 16. Jahrhundert in Japan kreierte Haiku 300 Jahre später unter dem Einfluß der japanischen bildenden Kunst und Architektur zur Zeit des Impressionismus über den angelsächsischen Kulturkreis und Frankreich in den deutschen Sprachraum, wobei Österreich wieder einmal mehr durch eine glückliche Heirat eine nicht unwesentliche Rolle spielte.

Graf Richard Coudenhove-Kalergi ehelichte die am 7. Juli 1874 in Tokio geborene Mitsuko Aoyama, welche in der Folge als Maria Thecla Gräfin von Coudenhove-Kalergi auch in ihrer neuen Heimat Wien dem Haiku huldigte und die um sie hofierenden Poeten, darunter auch Rainer Maria Rilke, damit bekannt machte. Später verhalf Imma von Bodmershof dieser Dichtungsform über Österreich hinaus im gesamten deutschen Sprachraum zu einer Renaissance, während ihr Gatte Wilhelm mit einem grundlegenden Essay wertvolle Schützenhilfe leistete.

Heute gibt es allein in Österreich über 50 Autoren, die ihre Eindrücke in das Korsett von 17 Silben zwängen, ohne beim Publikum allzugroße Bewunderung hervorzurufen. Hingegen erstrecken sich die darauf eingeschworenen Kreise nahezu über die ganze Welt. Zwischen dem Ursprungsland des Haikus und dem deutschen Sprachraum bestand seit jeher über die Sprachgrenze hinaus ein enger Kontakt. Gegenwärtig ist der japanische Germanist Harachiro Sakanishi wohl einer der bedeutendsten Repräsentanten auf japanischer Seite. Als Herausgeber von Anthologien und als Übersetzer deutscher Texte in die japanische Sprache wirkt er im gleichen

Müdiavunihidi 2urrge3&hftar Rwihthog dem Land der aufgehenden Sonne und dem Reich, in dem die Sonne einmal hätte nicht untergehen sollen.

Daß dabei die Japaner in einem anderen Verhältnis als wir zum Haiku stehen, ergibt sich allein schon aus der Tatsache, daß sie zur Kultur eine ungleich nähere Beziehung unterhalten, die eher unserem Nahverhältnis zum Sport entspricht. Und Haiku-Dichtung wird in Japan förmlich wie ein Volkssport betrieben, zumal sich jeder Japaner zumindest einmal in seinem Leben in dieser Disziplin zu bewähren versucht. So ist es durchaus verständlich, daß die haikudichtenden Kinder Nippons zu Gruppen und Verbänden finden, Publikationen herausbringen und Feste veranstalten, die Leistungsschauen gleichen. Diese Gruppierungen entspringen nicht etwa einem Separatismus, sondern ergeben sich zwangsläufig aufgrund der geographischen Lage des Inselreiches, das sich vom 30. nördlichen Breitengrad bis zum 45. Breitengrad erstreckt und dadurch für die einzelnen Regionen verschiedene jahreszeitliche Begriffe prägt.

„Treibeis" ist der Titel einer von Hachiro Sakanishi im Seibunsha Verlag, Tokio, herausgegebenen Anthologie, die sich in deutscher Übertragung ausschließlich dem Haiku-Schaffen und dessen Entwicklung auf Hokkäido, der nördlichsten Hauptinsel Japans widmet, also jener Region, welche geographisch und daher klimatisch annähernd auf „unserer" Linie liegt. Wir erfahren dabei von den neuesten literarischen Strömungen der Haiku-Dichtung im Hinblick auf Ge-samt-Japan. Denn was in letzter Zeit für das ganze Land bestimmend wurde, ist neben der inhaltlichen Wandlung auch ein neuer soziologischer Aspekt, der sich darin äußert, daß diese altjapanische Dichtungsart, einst vom Kaiser und Adel gepflegt, nunmehr auch von Werkarbeitern würdig fortgesetzt wird. In „Treibeis" sprechen die einzelnen Haikus nicht nur für sich, sondern es reden ihnen auch Hachiro Sakanishi und Tadao Araki das Wort. Holzschnitte zu den Jahreszeiten von Kiyoso Fuishima bereichern den Band, der somit zum gerne aufgegriffenen Treibgut wird.

„Treibeis", Haiku in Geschichte und Gegenwartauf Hokkaido. Herausgegeben von Hachiro Sakanishi, Seibunsha Verlag Tokio. Auslieferung durch Hokkaido Christliche Buchhandlung c/o Christian-Centre. 001 Sapporo Kitaku Kita-7 Nishi-6, Japan.

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