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Westöstliches

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Die Vprbilder der japanischen Haiku finden, sieh in einem ,ersten Gedichtband, der im 8. Jahrhundert zu Nara, der Kaiserstadt, erschien. Damals bereits wurde eine Kunstform, das Tanka oder Waka, benutzt und mit vollendeter Meisterschaft gehandhabt: Fünfzeiler von 31 Silben in verschiedener Anordnung der Zeilen. Der japanische Formtrieb, der auf Konzentration gerichtet i$t, analog der sparsamen Zeichnung mit spitzem, sensiblem Pinsel, verengte diese Kurzgedichte im 16. Jahrhundert, indem der Abgesang mit seiner verdeutlichenden Wiederholung weggelassen wurde, auf 17 Silben, die in drei Zeilen zu 5, 7 und 5 Silben angeordnet sind. Wilhelm Bodmershof, der Gatte der

Dichter(įt mm a Bodmershof, hat dargelegt Und glaubhaft zü machen verstanden, daß durch Zeilen von 4, 6 oder 8 Silben etwas „Flaches, Abgeschlossenes, nicht Weiterwirkendes“ in das Gedicht kommt. Die ungerade Silbenzahl hingegen, mit den im Osten heiligen Zahlen 5 und 7, lasse „alle Türen offen“ …

Haiku geht von einem Natureindruck aus, aber nicht von einem allgemeinen, sondern sehr detaillierten und präzisen. In ihm soll die Jahreszeit erkennbar sein, der das Gedicht zugehört. Der Gefühlsinhalt wird nicht ausgesprochen, sondern nur im Leser erweckt. Das Bild kann statisch sein oder der gespannten Bewegung zwischen zwei Polen Ausdruck verleihen: entsprechend den Seinsebenen, zwischen denen sich der Mensch bewegt, Hier und Drüben, Diesseits und Jenseits. Diese Kunst wurzelt in der religiösen Haltung des Zen-Buddhismus. Daher enttäuschen jene Haikus, die nicht mehr sind als eine Impression. Auf Poesie und sprachlichen Wohlklang wird besonderer Wert gelegt: das Haiku soll nicht wie ein Aphorismus wirken.

Lange Zeit wurde bestritten, besonders von Kennern des Japani schen und des Haiku, daß außerhalb von Japan, das heißt in einer anderen Sprache, Haiku möglich wären. Seit nämlich die Haiku-Schulen durch eine kaiserliche Verfügung, um 1600, geregelt wurden, gehört diese Gedichtform in Japan zum Gemeingut der gebildeten Schichten Japans, es gibt eigene Hadku-Zeit- schriften, und man schätzt, daß noch heute alljährlich eine Viertelmillion Haiku in Japan geschrieben werden. Imma Bodmershof, die mit mehreren österreichischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, hat bewiesen, daß man auch im Deutschen Haiku schreiben kann. Es ist ihr auch als erster Europäerin die Ehre wiederfahren, in japanischen Haiku-Zeitschriften in Übersetzung gedruckt zu werden und die Anerkennung japanischer Haiku-Spezialisten zu finden. Immer schon hatte ihre Kunst etwas Besonderes, etwas „hinter den Worten“ Liegendes, dem die Form des Haiku ganz besonders entspricht. Bereits 1962 ist in einem deutschen Verlag, der lange mit der Publikation zögerte, eine erste Sammlung erschienen.

Wir halten diese Kunstform in der heutigen Zeit, da alles ausgesprochen, oft unkontrolliert herausgeschleudert wird, für besonders wichtig und bemerkenswert. Während sich auf der Bühne ein extremer Naturalismus austobt, mit der Prosa experimentiert wird und die „Lyrik“, das Gedicht, eine. Art Silben- und Buchstabenjux geworden ist, demonstriert uns Imma Bodmershof — zum Glück nicht als einzige — die Unversehrtheit der Sprache und der organischen Form. Das hat mit Eskapismus nichts zu tun und ist auch nicht Kunst un und für den „elfenbeinernen Turm“. Wohl aber ist dies eine Gegenwelt zur heutigen, mit der es ja nicht zum allerbesten bestellt ist.

Nun legt Imma Bodmershof neue Haiku vor, die unter dem Titel „Sonnenuhr“ als Band 98 der Stif- terbibliothek, Linz, erschienen sind. Die folgenden Proben mögen einen Eindruck von dieser noblen Kunst der Aussparung und des Weglassens vermitteln:

Sturm poltert ums Dach;

hart schlägt Regen ans Fenster —

Lautlos wächst der Tag.

Einsam die Biene schläft in der Sonnenblume;

Vergaß sie ihr Haus?

Im schattigen Hof ein Sonnenfleck — der Kater leckt das Gold von den Pfoten.

Brausen der Stadt.

Sanft weckt mich ein Ton.

Am Fenster leichter Regen.

Ich schloß alles zu;

wollte schlafen. Doch der Traum rief mich beim Namen.

Helle Kristalle schimmern — ein Straßenkehrer fegt sie als Schlamm fort.

Verschneiter Waldteich;

Wildspuren laufen sorglos über die Tiefe.

Der große Fluß schweigt; manchmal tönt es leise tief unter dem Eis.

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