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Walter Pilar führt sein einzigartiges Projekt Leben zu erzählen weiter. Jenseits aller gewohnten Autobiografien entwirft er einen dichten Text aus den unterschiedlichsten literarischen Formen.

Der Avantgardist und "Gesamtkunstwerker" Walter Pilar hat die zweite Welle seiner "skurrealen Entwicklungsromanesque" "Lebenssee" vorgelegt. Was sie an das Ufer der Erinnerung spült, ist auch diesmal wieder faszinierend und irritierend, humorvoll und ernsthaft zugleich. Pilar vermag seine poetischen Verfahrensweisen im Vergleich zum ersten Band in ihrer Dichtheit noch zu steigern: Man findet eine stilistische und gattungsmäßige Streuung vor, die vom dokumentarischen und anekdotischen Erzählen über atmosphärische Beschreibungen und Essayistischem bis hin zu Sprachexperimenten, Wortspielen und lyrischen Texten reicht. Auch diesmal nimmt der Autor die Leser wieder auf eine Zeitreise in die österreichische Provinz mit und darüber hinaus auf einen "Ausritt" nach Berlin und Prag im politisch brisanten Jahr 1968. Hat Pilar im ersten Band das Mosaik einer Kindheit und Jugend entworfen, setzt der zweite Band mit dem Lebensabschnitt der Adoleszenz fort. Er führt zu den Wurzeln des intellektuellen und poetischen Werdegangs des Dichter zurück. Schon das Umschlagbild ("Jungdichter W. P. im Leiberl") und der Untertitel "Gerade Regenbögen", mit denen die spektralfarbenen Einbände der Taschenbuchreihe "edition suhrkamp" im Bücherregal gemeint sind, weisen in diese Richtung.

Wie sehr bereits den maturierenden Protagonisten die Welt der Bücher in ihren Bann gezogen hat, stellt sich schon im 1. Kapitel heraus, das der Schriftstellerin und Japanologin Suzan von Wittek gewidmet ist, die dem Gymnasiasten Pilar aufgrund ihrer Belesenheit verschiedene Autoren (z.B. Alfred Kubin) nahegebracht und ihn auch in ihre literarischen Bekanntschaften eingebunden hat, so dass beispielsweise der traklbegeisterte Schüler mit Ludwig v. Ficker in Briefkontakt treten konnte. Zu den außergewöhlichen Persönlichkeiten, die Pilars Romanwelt bevölkern (so der Komponist Josef Ramsauer und die bekannte Rilke-Rezitatorin Lu von Blittersdorff im 3. Kapitel), zählt auch Thomas Bernhard. Fasziniert von seiner frühen Prosa, hat Pilar ihn in Ohlsdorf mehrmals besucht. Unter der Überschrift "Vom Unsterblichen" gehört Bernhard das 8. und letzte Kapitel, worin der "Kleindichter" Pilar dem "Großdichter" ein Natur-Denkmal setzt und ihn "zwickerlt".

Den Beginn einer neuen Entwicklungsphase markiert die Inskription als Student der Soziologie an der Linzer Hochschule in der heißen Phase der 68er Studentenrevolte. Als Mittelachse des Romans behandelt das 4. Kapitel "Gerade Regenbögen", das "Herz&Kopf"-Stück des Buches, die Studentenzeit. Wie ein Exkurs wird darin als Höhepunkt das 5. Kapitel "Reise in die Revolutscherei" eingeschoben, eine "zufällig zeittypische Hinfahrt linker Fieberköpfe mit der KHG [Katholischen Hochschulgemeinde] ins revolutionsgeladene Westberlin (& zurück über das erwachende Prag)". Das studentische Feindbild ist klar: eine spießbürgerlich autoritäre Gesellschaft, fest in den Krallen des Kapitalismus und in einer unermesslichen Technikgläubigkeit gerade dabei, die Natur zu zerstören und die Landschaft architektonisch zu verschandeln. Die Formen des Protests sind allerdings unterschiedlich: Pilar ist hin und hergerissen zwischen ästhetizistischem Eskapismus und zivilisationskritischen Tönen in der Tradition Nietzsches oder des "Brenner"-Philosophen Carl Dallago, zwischen parteipolitischer Agitation und avantgardistischem Aktionismus. Letzterer gewinnt die Oberhand, denn, wie Pilar bei seiner ersten öffentlichen Dichterlesung an der Linzer Hochschule erfahren hat, ist die Literatur ein probates Instrument des Widerstands; eine Literatur nämlich, die sich einerseits an den Verfremdungstechniken des "Nouveau Roman" eines Robbe-Grillet orientiert und andererseits die poetischen Möglichkeiten des Dialekts (wieder)entdeckt, die den normierenden Gestus der Hochsprache provozieren sollen.

Was der Soziologiestudent über entfremdete Arbeit von Marx bis Marcuse gelesen hat, verwandelt sich für ihn von reiner Theorie in quälende Praxis, wenn er in den Sommerferien als "Ferialpraktikant" beim Schiffahrtsunternehmen "Ypsich" in Ebensee sein Geld verdienen muss - so im 6. Kapitel "Schiffahrtszeit" nachzulesen. Als kassierender Schiffsschaffner muss er in die autoritäre Rolle eines Überwachers schlüpfen und den Passagieren befehlen: "Fahrscheine bitte vorweisen!" - "ein völlig entpersönlichter, rein funktionaler Spruch", der dem sprachsensiblen Jungdichter so zuwiderläuft, dass er ihn sprachspielerisch demolieren muss: "Dieses Fahrschweinl bittig fierareiß'n!" Die Geburtsstunde eines poetischen Verfahrens also, das Pilars dichterisches Werk fortan prägen sollte. Aber auch das "Unbehagen in der Kultur" im Sinne Freuds bekam der mit erotomanen Zügen behaftete junge Mann in diesen Sommermonaten am eigenen Leib zu spüren. Gemildert wird es in der Begegnung mit Landschaft und Natur, deren Beschreibungen nicht ins Klischee verfallen, weil Pilar sein "Idyllien" am Traunsee, wo schon Adalbert Stifter in der Erzählung "Feldblumen" seine Figuren ein "Tuskulum" errichten lässt, nie aus der Spannung zum zivilisierten Raum entlässt und auch die Spuren, die die Geschichte in dieser Landschaft hinterlassen hat, reflektiert.

Welche Arbeit sich hinter Pilars "Lebenssee"-Projekt verbirgt, in dem er eine/seine Generation porträtiert und damit eine unersetzbare Erinnerungsarbeit für das kollektive Gedächtnis leistet, vermag zu erahnen, wer sich die Liste jener Personen vor Augen hält, denen am Ende des Buches gedankt wird. Man kann nur hoffen, dass sich der Autor dadurch nicht von der Weiterarbeit an seiner monumentalen Tetralogie abhalten lässt.

Lebenssee II - Gerade Regenbögen

Von Walter Pilar

Ritter Verlag, Klagenfurt 2002

408 Seiten, brosch., e 18,90

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