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Alfred Polgars Kritiken sind ein reines Lesevergnügen.

Lauter gute Kritiken" ist ein wunderbarer Titel für ein Buch von Alfred Polgar, "zusammengetragen von Harry Rowohlt" allerdings ein falscher Untertitel. Denn ausgegraben und "zusammengetragen" hat Polgars Kritiken und Essays vor vielen Jahren Ulrich Weinzierl für seine 6-bändige Werkausgabe von Polgars "Kleinen Schriften", deren erster Band 1982 erschienen ist. Auch wenn diese hübsche blaue Ausgabe jahrelang vergriffen war, gibt es bis heute kein Polgar-Buch, das nicht auf Weinzierls Arbeit basierte. In seinem Polgar-Lesebuch von 2003 beschreibt Harry Rowohlt das auch so; im neuen Auswahlband "Lauter gute Kritiken" übernimmt er kommentarlos die ausführliche "Zeittafel" von Weinzierls "Kleinen Schriften". Auch auf Textnachweise verzichtet die Ausgabe und etwas sorglos wirkt auch die Auswahl selbst. Dass zwei Texte unmittelbar aufeinander folgen ("Hemingway, Männer" und "Vom Sinn des Buchreferats"), in denen dieselben Gedanken und Metaphern entwickelt werden, ist genauso lieblos wie die fünf willkürlich angehängten Aphorismen, die den Band unvermittelt abschließen als wären einige Seiten im Umbruch verloren gegangen.

Doch auch wenn die Ausgabe nicht überzeugt, die Texte sind ein reines Lesevergnügen. Gelehrte Theaterkritik, so Polgar, erwecke in ihm stets "die Empfindung: die Niederkunft des Zettelkastens". Gegen diese und jede andere Art sprachlicher wie gedanklicher Plattheit schrieb Polgar ein Leben lang und außer Konkurrenz an. Seine Spezialität ist der schräge Blick, das Verschieben der Perspektiven, die Suche nach den verborgenen Epizentren der Dinge. Diesem Blick halten Klischees und Stereotypen nicht stand, das macht auch die zentrale Qualität seiner Theaterkritiken aus, die so manche Rezeptionsschleife entwirren. "Verkehrt herum" betrachtet etwa wird Hofmannsthals "Jedermann", "gerade der Nicht-Jedermann" par excellence", denn "für einen armen Schlucker hätte auch der Himmel keinen solchen Aufwand getrieben".

Mit knappsten Sprachbildern bekommt Polgar Schwachstellen wie Typika eines Autors, eines Werks, einer Theatermode zu fassen. Das Ergebnis einer umfangreichen Analyse kann bei ihm zu einer winzigen Formulierung gerinnen: Max Reinhardts "Regiebuch ... darf man sich im Stil eines Feldzugsplans abgefaßt denken", sagt alles über die Megalomanie eines Theaterkonzepts. Oder: "Ernst Busch, der Jung-Siegfried der KPD" als Kommentar zur Inszenierung von Bert Brechts "Die Mutter". Arthur Schnitzler wusste, weshalb er die spitze Feder des "klügsten" seiner Kritiker hasste: Schnitzlers Figuren sieht Polgar "längs des einsamen Wegs leidwandeln ... Und wie ein guter Vater sorgt der Dichter für sie ... Wenn sie ein Bedürfnis haben ... führt er sie alsogleich innerln." Hemingway hingegen ist für Polgar das Beispiel einer Literatur, "an der keine Spur von des Schreibtischs Müh' und Absicht haftet". Auch politische Kommentare verpackte Polgar stets so leise, dass ihre Schärfe mitunter gar übersehen wurde. "Wenn ein Mund und ein Ohr zusammenstoßen und es klingt wie Jargon, muß nicht immer der Mund daran schuld sein", schreibt er, Lichtenbergs Aphorismus paraphrasierend, über die antisemitischen Untertöne in den Kritiken zu "Ödipus" in der Bearbeitung von Hofmannsthal/Reinhardt.

Mit schrägem Blick

Nicht weniger anregend ist es, wenn Polgar aus der Schreib-Werkstatt berichtet, über die Tendenz zum Parallelismus von Stimmung und Wetter nachdenkt, wo jedes Unglück "den Weinkrampf der Wolken" nach sich zieht, die Technik der Gesprächsführung in Romanen untersucht oder Visionen für das junge Medium Film entwickelt. Ein hartnäckiges Vorurteil will um Polgars Kulturkonservativismus wissen, doch das ist ein Missverständnis. Polgar sah und würdigte früh die Möglichkeiten des Films, ihm ging es nur um eine "Therapie des endemischen Kinoschwachsinns", und die hatte die billige Massenware der Frühzeit genauso notwendig wie die heutige.

Lauter gute Kritiken

Von Alfred Polgar. Zusammengetragen von Harry Rowohlt. Mit einem Interview von Robert Musil. Verlag Kein und Aber, Zürich 2006, 301 Seiten, geb., e14,80

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