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Der Weise aus dem Cafe
Am 17. Oktober 1983 j ährte sich zum 110. Mal der Geburtstag des Wiener Erzählers, Übersetzers und vor allem bedeutendsten Theaterkritikers seiner Zeit: Alfred Polgar. Diese Würdigung erscheint also im Respektsabstand von nur acht Tagen, das ist nicht viel, denn der berühmte Mann wurde immer, wenn überhaupt, mit zweijähriger Verspätung geehrt.
Das begann 1925, als seines 50. Geburtstages gedacht wurde,
wiewohl Polgar 1873 im zweiten Wiener Gemeindebezirk „als drittes Kind des ..Claviermeisters4 (späteren Klavi’erschulinhabers) Josef Polak und seiner Frau Henriette” auf die Welt gekommen ist. („Polgar”, anfangs ein Nom de plume, ließ er 1914 legalisieren.) Für das Jahr 1935 monierte sogar der sonst gut orientierte Karl Kraus, daß man in Österreich den 60. Geburtstag des großen Österreichers habe sang- und klanglos vorübergehen lassen.
Das falsche Geburtsjahr überlebte ihn. 1963, acht Jahre nach Polgars Tod, erschien der 500-Sei- ten-Band „Bio-Bibliographisches Literaturlexikon Österreich” und gab als Geburtsdatum „17. 10. 1875” an. Daher wurde im Wiener Akademietheater 1975 mit einer offiziösen Matinee der 100. Geburtstag Alfred Polgars feierlich begangen, mit der seit 50 Jahren üblichen Verspätung. Da aber die Nachwelt nichts auf sich sitzen läßt, heißt es nun, er habe sich selbst um zwei Jahre jünger gemacht.
Sei’s drum; er war ein Ironiker und elegisch gestimmt wie die meisten dieser Art. Elegisch gestimmt waren auch die alten Verehrer seiner wohlwollend skeptischen Diktion, weil die Schriften Polgars - Dutzende Sammelbände — lange vergriffen blieben.
Endlich kündigte der Verlag Rowohlt, der seit 1926 die Editions-, rechte hat, eine vierbändige Ausgabe „Kleine Schriften” von Alfred Polgar an, und 1982 erschien Band 1 mit dem Titel „Musterung”, herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki und dem jungen Wiener Polgar-Spezialisten Ulrich Weinzierl, von dem ja die Polgar-Monographie „Er war Zeuge” stammt.
Musterung” musterte zeit- und gesellschaftskritisch jene fatale, nicht enden wollende Epoche, die eigentlich nur aus Vor-, Nach-, Zwischen- und den Kriegszeiten selber bestand. Der Galgenhumor dieses Beobachters war darum so schmerzlich, weil er spürte, daß in aller scheinbaren Gemütlichkeit die Errichtung von Galgen ein Leichtes sein mußte.
Als Band 2 waren Erzählungen und Skizzen vorgesehen, als Band 3 Aufsätze über Literatur und Film, als Band 4 eine Auswahl der berühmten Theaterkritiken.
Doch der unlängst erschienene Geschichtenband „Kreislauf” bringt eine erfreuliche Überraschung: Das Vorgefundene erwies sich als so gewichtig, daß sich die Herausgeber entschlossen, im Frühjahr 1984 einen weiteren Band betrachtend erzählender Schriften einzuschieben: „Irrlicht”. Die Ausgabe wird daher mindestens fünfbändig werden, falls die Vielfalt der überaus wichtigen Premierenberichte nicht noch einen sechsten Band erzwingt.
Nicht mit Schadenfreude, eher mit Schadenleid durchschaute
Alfred Polgar die Hohlheit. Nur ein Beispiel: Wenn er eine kleine Überlegung „Beethoven-Maske” betitelt, so weist er schon mit der Überschrift auf die Kultur-Maske der Masken-Kultur hin. Denn er beginnt: „Beethoven ist ein beliebter Wandschmuck.” Dann rekapituliert er schlagwortartig das schmuckwidrig Schmucklose dieses Künstlerlebens und schließt mit bitterem Humor:
„Ernst ist die Kunst, heiter das Leben. Noch heiterer das nach dem Tode, die Unsterblichkeit.”
Die unsterbliche Blamage allzu weltlicher Nachwelten wird nicht polemisch ausgesprochen, die kann man sich leicht dazudenken. Marktgemäße Oberflächlichkeit mag keine Vertiefung. Begreiflich, daß der Verewigte eine kleine Ewigkeit lang mit seinen großartig „Kleinen Schriften” verdrängt blieb: vom Buchmarkt, aber auch psychoanalytisch verstanden.
Ist er jetzt redivivus?
KLEINE SCHRIFTEN/BAND 1: MUSTERUNG. BAND 2: KREISLAUF. Von Alfred Polgar. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1982 u. 1983.555 und 429 Seiten, je öS 365,-.
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