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Wenn die Dämme brechen …

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Antonia White, die zu den repräsentativen Vertretern der modernen katholischen Literatur in England gehört, wagt sich in diesem Buch an ein im Roman nicht alltägliches Thema: das Phänomen des Wahnsinns, dessen psychologische Durchdringung und dichterische Gestaltung ihr gleich meisterhaft gelingen.

Die Handlung knüpft an den früheren Roman „Ein Hexenhaus” an. Wir treffen Clara Batchelor, nach dem Scheitern ihrer unglücklichen Ehe, wieder in ihrem Elternhaus. Sie ist durch die nicht zu umgehende Trennung von ihrem Mann für die katholischen Gatten neben dem ganz persönlichen auch ein bedrängendes religiöses Problem — in einen Zustand völliger Leere und Gleichgültigkeit geraten, für den sie fast dankbar ist nach den unerträglichen Erregungen und Qualen, die hinter ihr liegen. Aber Teilnahmslosigkeit und seelische Trägheit sind nicht Zeichen des wiedergefundenen Gleichgewichts, wie Clara meint. Das erweist sich an einer Begegnung, die sie unvermittelt aus ihrer Apathie reißt, hinein in einen Gefühlsüberschwang, den sie nicht bewältigen kann. Diese, intensive Liebe überfällt sie unvorbereitet, .wird zu einer neuen Gefahr ihrer seelischen ‘ Labilität und treibt sie schließlich in den Wahnsinn. Antonia White schildert die einzelnen Phasen dieses „Lebens jenseits des Spiegels” ohne Beschönigung. Die Untiefen des menschlichen Herzens offenbaren sich unverhüllt in diesen Irren, die unbewältigten Leidenschaften, das Animalische in seiner nackten Brutalität drängen ans Tageslicht .und . toben .sich ungebändigW aus-.,Dazo.rdie. iiebn. jlosigkeit der Behandlung durch die Pfleger, die weitgehende Hilflosigkeit der Aerzte gegenüber den Geisteskrankheiten. Die Autorin erspart ihren Lesern nichts. Aber hinter der Kraßheit ihrer Schilderungen steckt beileibe keine Sensationslust. Sie versucht vielmehr dem Phänomen „Wahnsinn” selbst auf’ die Spur zu kommen, die Ursachen zu entdecken, die den Menschen in geistige Umnachtung treiben. Und sie läßt uns ahnen, daß sie letztlich in der Störung der zwischenmenschlichen Beziehungen — im engsten und im weitesten Sinn genommen — liegen, immer aber in Erfahrungen, denen die Sėele nicht gewachsen ist. Und sie demonstriert ein Paradoxon: daß das verlorene Gleichgewicht, wenn es auf normalem Wege nicht wiederherstellbar ist, in der Entfesselung des Wahnsinns wiedergewonnen werden kann. Clara muß, so scheint es, durch die Gummizelle, um frei zu werden von den untragbaren Lasten, die das Leben ihr aufgebürdet hat. Im Nachvollziehen aller unbewältigten Erlebnisse in ihren Wahnvorstellungen findet sie sich schließlich wieder. Man denkt bei ihrem furchtbaren Weg an, einen Ausspruch des italienischen Irrenarztes und Schriftstellers Tobino, der in seiner „Trauer von Magliano” sagt, daß der Geistesgestörte frei sei in seiner Zelle. „Er schwenkt ohne Unterlaß die Fahne seiner Tollheit, die Zelle ist das Reich, wo er pich offenbart — was ja den Menschen aufgegeben ist.”

Es ist der Sinn im Unsinn, den Antonia White deutlich machen möchte, und das gelingt ihr in bemerkenswetter Weise. Durch das Geschehen selbst, in dem die Problematik Gestalt gewinnt.

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