Wie ein undurchdringlicher Schleier

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Das Bild vom ,Friedensprojekt' Europa wird gern dann besonders herausgestellt, wenn wieder einmal klar wird, dass die EU doch nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, und es hat einen dunklen Kratzer: die Jugoslawienkriege unmittelbar vor der europäischen Haustür. Gut 90.000 Flüchtlinge kamen damals nach Österreich, mehr als die Hälfte davon waren Muslime.

Robert Prossers Roman "Phantome" nimmt diese offene Wunde in Augenschein -aus Sicht der muslimischen Bosnier, was zwangsläufig eine eindeutige Opfer-Täter-Perspektive ergibt und getötete serbische Zivilisten ausblendet. Abgesehen von den tatsächlichen Kampfhandlungen und Gewaltexzessen ist die moralische Integrität in Kriegszeiten freilich prinzipiell labil. Wer möchte richten über jene bosniakische Mutter, die, um sich und ihren Sohn zu retten, ohne gröbere Bedenklichkeit zwei lüsterne Soldaten auf die im Stockwerk darüber versteckten jungen Krankenschwestern aufmerksam macht? Oder selbst über jene beiden jugendlichen Flüchtlinge, deren Väter von serbischen Soldaten ermordet wurden, die dann in Wien mit großer Befriedigung an Autos von Serben Reifen aufschlitzen?

Nur scheinbar anarchisch

Eingerahmt sind die eigentlichen Kriegs- und Fluchtgeschichten von je einem im Jahr 2015 spielenden Kapitel. Zu Beginn ist es der Bericht eines jungen Sprayers, der durch seine Freundin Sara und deren bosnische Mutter Anisa beginnt, sich für die Jugoslawienkriege zu interessieren. Auch weil Anisa zwar von ihrer Kindheit erzählt, über Krieg und Flucht aber schweigt. Gemeinsam mit ihrer Tochter Sara fährt der Erzähler wiederholt nach Sarajevo und Tuzla, nach Srebrenica und Banja Luka, lauscht den Gesprächen der Menschen, besucht Museen, in denen die Geschichte der jeweils anderen Seite ausgespart bleibt, nimmt an Gedenkfeiern teil, versteht letztlich aber wenig vom Umgang mit den Kriegserinnerungen bei den Älteren und der fiebrigen Unruhe der Jungen.

Im Übrigen demonstriert Prosser in diesem Abschnitt mit der Erzählfigur des Sprayers ganz hervorragend und ohne es explizit auszusprechen, wie systemkonform diese scheinbar anarchische Street-Art ist. Es geht darum, den eigenen "Namen" zur Marke zu machen, die Prinzipien des Wettbewerbs um Vorherrschaft in einem Viertel -größer, höher und weiter bzw. riskanter, häufiger, bunter -zu internalisieren und schwächere Konkurrenten im Wortsinn auszulöschen, also ihre Tags mit der eigenen Marke zu übersprayen.

Den Hauptteil des Romans bilden die abwechselnd geschilderten Erlebnisse einer Reihe von Figuren rund um die junge Anisa und ihren einstigen Freund Jovan, deren Liebe von der gewaltsamen und radikalen ethnisch-religiösen ,Säuberung' zersprengt wird. Während Anisa beim Überfall der serbischen Soldaten fliehen kann, bleibt ihr Vater zurück und die beiden werden einander nie wiedersehen. Jovan ist bosnischer Serbe und will eigentlich Maler werden, er leistet bei Ausbruch des Krieges gerade seinen Wehrdienst ab und beschließt nach den ersten Kampfhandlungen zu desertieren. Es gelingt, aber wenig später wird er wieder aufgegriffen und macht vier Jahre lang den Stellungskrieg in den bosnischen Wäldern mit. Auch Anisa und Jovan werden einander nicht wieder begegnen.

Nach Kriegsende

Während Anisa in einer zum Flüchtlingslager umfunktionierten Turnhalle in Wien landet und im Lauf der Jahre im neuen Leben Fuß fasst, tingelt Jovan nach Kriegsende als Straßenkünstler durch verschiedene Städte und gerät eines Tages in eine dunkle Geschichte. Just in Wien lässt er sich von einem ehemaligen Kriegskameraden in einen Raubüberfall verwickeln und wird gefasst. Im abschließenden Kapitel hat er noch zwei Wochen von den fünf dafür ausgefassten Jahren in der Justizanstalt Stein abzusitzen.

Prosser erzählt die Geschichten lakonisch, mit kurzen, schmucklosen Sätzen. Die häufigen Perspektivenwechsel und auch das Switchen zwischen Außen- und Innensicht oft mitten in einer Episode machen die Lektüre nicht ganz einfach, auch weil die grammatischen Anschlüsse nicht immer eindeutig geraten. Sichtbar aber werden dadurch die multiplen und unausweichlichen Langzeitfolgen der Kriegs-und Fluchttraumata. In Anisas Turnhalle fügen sich die Fluchtgeschichten aller Insassen zu einer einzigen zusammen und hängen wie ein undurchdringlicher Schleier im Raum, der Zusammenhalt ebenso generiert wie die Sehnsucht nach einem Ende dieser Gemeinschaft. So ergeht es Anisa, die einfach auch jung sein und Jovan und die Vergangenheit radikal hinter sich lassen will.

Der Roman ist trotz wechselnden Perspektiven einlässig durcherzählt, enthält feine Beobachtungen, auch über Gedankenlosigkeiten wohlmeinender Helfer.

Mehr verstören als erbauen

Äußerlich ist ihr das gelungen, immerhin ist ihr Mann, Saras Vater, ein im gehobenen Management tätiger Österreicher; freilich brachte diese Heirat auch einen Bruch mit Anisas bosnischen Verwandten, die den Krieg überlebt haben und keinen Nicht-Muslimen in der Familie wollen. Jovan aber wird wohl bis zum Lebensende von seinen Kriegserinnerungen eingeholt werden, an deren Anfang ein erzwungener Einsatz in einem Erschießungskommando steht.

Der Roman ist trotz der wechselnden Perspektiven einlässig durcherzählt -was ihm wohl auf die Longlist des Deutschen Buchpreises verhalf -und enthält manch feine Beobachtung, auch über Gedankenlosigkeiten wohlmeinender Helfer. Etwa wenn die Sozialarbeiterin als Ablenkung vom Lageralltag den "Haufen Bosnier" ins Kunsthistorische Museum führt, wo die "unzähligen Kreuzigungsszenen" und die Bilder aus den ihr unbekannten Märtyrerlegenden die junge Muslimin Anisa mehr verstören als erbauen.

Prosser gilt als Autor mit "Lust am Sprach-und Formexperiment" und erhielt 2014 den Reinhard Priessnitz-Preis. Vielleicht fällt gerade deshalb manche Holprigkeit im Ausdruck stärker auf, bei der sich kein poetischer Mehrwert erkennen lässt, etwa bei Formulierungen wie "Regenbrüche" überstehen, in ein "unweites Dorf" gehen, "durch die Hinterscheibe auf die zurückgelegte Allee" schauen, oder Autofahrer, die hupend "voranzugelangen" fordern und Erzählungen, "die an Momentum gewannen, gesellten sich" Freunde dazu. Dass Stufen nur mehr "hoch" und nicht "hinauf" gegangen werden, ist man freilich auch in österreichischen Romanen beinahe schon gewöhnt.

Phantome Roman von Robert Prosser Ullstein 2017 336 S., geb., € 20,60

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